Regierung

Größtes Kabinett aller Zeiten

Der Premier und sein Juniorpartner Foto: Flash 90

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Größtes Kabinett aller Zeiten

Netanjahu und Gantz einigen sich doch noch auf einen Koalitionsvertrag

von Sabine Brandes  23.04.2020 11:04 Uhr

Nahezu eineinhalb Jahre lang herrschte in Israel politischer Stillstand. Jetzt steht das Land kurz davor, eine neue Regierung zu bekommen. Am Montagabend einigten sich Premierminister Benjamin Netanjahu vom rechtsgerichteten Likud und der Vorsitzende der Zentrumspartei Blau-Weiß, Benny Gantz. In Jerusalem unterschrieben sie einen Koalitionsvertrag für eine »nationale Notfall-Einheitsregierung«.

Beide Top-Politiker äußerten sich lediglich knapp in den sozialen Netzwerken nach der Unterzeichnung, die wenige Momente vor dem Beginn des nationalen Holocaust-Gedenktages Jom Haschoa geschah. Netanjahu schrieb anschließend auf Twitter unter dem Bild der Landesflagge: »Ich habe dem Staat Israel eine Notfallregierung versprochen, die Leben und Lebensunterhalt von Israelis retten wird.« Gantz twitterte ebenfalls: »Wir haben eine vierte Wahl verhindert. Wir werden die Demokratie schützen. Wir werden das Coronavirus bekämpfen und uns um alle israelischen Bürger kümmern.«

Zunächst will sich die Regierung vor allem um die Folgen der Pandemie kümmern.

Dem Vertrag zufolge würde mit dieser Regierung das größte Kabinett aller Zeiten entstehen. 32 Minister kämen sofort ins Amt, nach dem Ende der Corona-Krise sogar 36. Dazu erhält jeder Block acht stellvertretende Minister. Die Parteien Likud und Blau-Weiß teilen sich die Ressorts zu gleichen Teilen 16–16 und später 18–18. Damit setzte Gantz eine seiner Hauptforderungen durch, denn die Zahl seiner Abgeordneten beläuft sich nach dem Auseinanderbrechen des Mitte-Links-Bündnisses lediglich noch auf 17. Gemeinsam mit den beiden Abgeordneten der einstigen Arbeitspartei, Amir Peretz und Itzik Schmuli, kommt Gantz’ Zentrumsblock auf 19 Mandate.

SITZE Der Likud vereint währenddessen 36 Sitze zuzüglich 16 der ultraorthodoxen Parteien Schas und Vereinigtes Tora-Judentum. Ein Mandat steuert Orly Levy-Abekassis bei. Unklar ist bis dato, ob die Rechtsaußenpartei Jamina des derzeitigen Verteidigungsministers Naftali Bennett mit ihren sechs Mandaten der Koalition beitreten wird. Sollte sie nicht Teil der Regierung sein, wird der rechtsreligiöse Block 53 Sitze haben. Die breite Koalition verfügt dann über 72 Mandate in der 120 Sitze zählenden Knesset.

Gantz wird voraussichtlich die Ämter des Verteidigungsministers und Vize-Premiers übernehmen. Die Position des Parlamentspräsidenten wird weiterhin dem Likud zugeordnet. Hier soll mit Yariv Levin wieder ein scharfer Kritiker der Gerichte Platz nehmen. Die Außen-, Energie- und Umweltministerien werden rotieren.

Dem Block von Netanjahu werden die Ressorts Finanzen, Bildung, öffentliche Sicherheit, Innenpolitik, Verkehr, Gesundheit, Religion und weitere zugeordnet. Blau-Weiß soll unter anderem das Justiz-, Wirtschafts-, Arbeits- und Sozial-, Kommunikations-, Landwirtschafts- sowie das Tourismusministerium erhalten. Gesundheitsminister wird aller Voraussicht nach wieder der mittlerweile vom Coronavirus genesene Yaakov Litzman vom ultraorthodoxen Vereinigten Tora-Judentum sein. Ebenso bleibt sein Kollege im Inneren, Arie Deri von Schas.

MISSTRAUEN Die Regierung soll für 36 Monate an der Macht bleiben, mit Netanjahu als Erstem an der Spitze für die Hälfte der Zeit. Anschließend soll Gantz auf dem Chefsessel Platz nehmen, ohne dass weitere Gesetzgebung benötigt wird. Gleichzeitig ist der jeweils andere kommissarischer Premier. Für beide wird es eine offizielle Residenz geben.

Dass das Misstrauen groß ist, lässt sich an vielen Stellen im Abkommen lesen. Die Abgeordneten aus dem Zentrumsblock zweifeln offenbar, ob Netanjahu Wort halten und die Macht ohne Widerstand nach 18 Monaten abgeben wird. Daher ließen sie verschiedene komplexe Paragrafen einbauen, die dies garantieren sollen. Darunter einen, der versichert, dass Gantz automatisch Ministerpräsident wird, sollte Netanjahu das Parlament in den ersten 18 Monaten auflösen. Dafür allerdings musste Gantz seine Einwände gegen das Vetorecht des rechtsreligiösen Blocks in Sachen Richterernennung ad acta legen.

SCHLÜSSELPOSITIONEN In den ersten sechs Monaten will sich die Regierung hauptsächlich um die Folgen der Pandemie kümmern und verpflichtet sich, keine wichtige Gesetzgebung einzubringen, die damit nichts zu tun hat. Außerdem sollen keine Besetzungen von Schlüsselpositionen vorgenommen werden, beispielsweise für den Generalstaatsanwalt oder den Polizeichef. In dieser Zeit soll zudem über das Regieren nach Corona verhandelt werden.

Gleichwohl soll es Netanjahu erlaubt sein, bereits ab 1. Juli eine Abstimmung über die Annexion von Teilen des Westjordanlandes in die Knesset einzubringen. Laut Koalitionsvertrag solle es »keine Verzögerung durch Komitees geben«. Die Annexion soll entsprechend dem US-Plan für einen Frieden zwischen Israelis und Palästinensern geschehen.

STABILITÄT Politikexperten wie Bevölkerung hoffen nun gleichermaßen, dass eine Einheitsregierung die politische Lage stabilisiert. Denn seit den Wahlen am 2. März hatte eine Turbulenz nach der anderen das Geschehen in Jerusalem bestimmt. Zunächst hatte der langjährige Knessetsprecher Yuli Edelstein für einen Eklat mit dem Obersten Gericht gesorgt, anschließend wurde Gantz neuer Parlamentspräsident mithilfe des rechtsreligiösen Blocks um Netanjahu. Dabei hatte Gantz gerade diesen entmachten wollen und stets betont, er werde »nicht mit einem Premierminister unter Anklage in einer Regierung sitzen«.

Gantz sagte, er fühle sich verantwortlich, dem Land eine funktionierende Regierung zu geben.

Statt eine Alternative zu Netanjahu zu sein, ermögliche es ihm Gantz, trotz drei Anklagen wegen Korruption weiter zu regieren, klagen die einstigen Verbündeten Yair Lapid (Jesch Atid) und Ex-Verteidigungsminister Mosche Yaalon, die zuvor mit Gantz in der Union verbunden waren. Gantz konterte, er fühle sich verantwortlich, dem Land in Zeiten der Corona-Krise eine funktionierende Regierung zu geben.

Doch Corona ist nur ein Problem von vielen. Nach wie vor hängt das Damoklesschwert von drei Korruptionsklagen über Netanjahu. Zwar wurde die Arbeit der Gerichte in der Krise zunächst eingefroren, doch irgendwann wird der Tag kommen, an dem Netanjahu auf der Anklagebank Platz nehmen muss. Gantz hat diesbezüglich offenbar noch nicht entschieden, ob er einen Gesetzesvorschlag einbringen wird, der einen wegen krimineller Vergehen angeklagten Ministerpräsidenten aus dem Amt jagt, oder ob er dies lieber sein lässt.

Im Koalitionsvertrag gibt es auch dafür eine Klausel: Sollte ein derartiges Gesetz innerhalb der ersten sechs Monate der Regierung durchgehen, wird es in Israel Neuwahlen geben. Wieder einmal.

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