Porträt der Woche

»Wir müssen uns zeigen«

»Ich habe eine Aufgabe in Deutschland«: Felix Rottberger (80) lebt in Freiburg. Foto: Rita Eggstein

Porträt der Woche

»Wir müssen uns zeigen«

Felix Rottberger war Friedhofsverwalter und erhielt das Bundesverdienstkreuz

von Anja Bochtler  20.02.2017 15:44 Uhr

Bei uns im Wohnzimmer hängt ein Foto. Ganz groß. Alle sind darauf zu sehen: Meine Frau Heidi und ich, unsere fünf Kinder, die 13 Enkel und der erste Urenkel. Sie leben alle in unserer Nähe in Freiburg oder der Umgebung. Wir haben viel Kontakt, fast jeden Tag. Die Familie ist wichtig. Und ich freue mich, dass wir so viele sind. Denn Adolf Hitler wollte, dass Deutschland »judenfrei« wird. Den Gefallen tat ich ihm nicht. Inzwischen bin ich schon lange im Ruhestand. Aber der echte Ruhestand beginnt für mich erst, wenn ich ein paar Meter unter der Erde liege. So wie die Menschen nebenan auf dem alten Jüdischen Friedhof.

Ich wohne mit meiner Frau im Wärterhäuschen, das dazugehört. Ich führe seit Jahrzehnten Menschen über den Friedhof. Seit 1966 war ich der Friedhofsverwalter, bis zu meiner Rente. Inzwischen gibt es einen neuen Jüdischen Friedhof, die Führungen sind seltener geworden. Zurzeit sind es ungefähr sechs im Jahr.

In Freiburg fühle ich mich sehr wohl. Hier habe ich nie Judenfeindschaft erlebt. Als ich 1966 hierher zog, kam ich nicht alleine: 1963 hatte ich meine Frau Heidi geheiratet, sie ist Krankenschwester. Damals hatten wir auch schon einen kleinen Sohn. Inzwischen haben wir nicht nur unsere große Familie, sondern auch viele Freunde und Bekannte. Juden und Nichtjuden, das spielt keine Rolle: Man kann mit jedem auskommen.

engagement Wir sind oft in der Freiburger Synagoge, aber auch bei den jüdischen Gemeinden in der Umgebung, zum Beispiel in Emmendingen oder Lörrach. Und ich bin Mitglied der Deutsch-Israelischen Gesellschaft und im Bürgerverein hier in meinem Stadtteil Mooswald. Früher war ich sechs Jahre ehrenamtlich beim Deutschen Roten Kreuz aktiv und habe in einem Chor der Städtischen Bühnen gesungen.

Meine Frau und ich sind viel unterwegs. In Budapest haben wir eine Ferienwohnung, in der wir mehrere Monate im Jahr verbringen. Von dort stammt Brixi, unser kleiner Hund. Früher hat er dort auf der Straße gelebt. Neulich habe ich bei einer Hundemesse in Freiburg einen Preis mit ihm gewonnen, er hat viele kleine Kunststücke gelernt. Liebe und Konsequenz – das ist das Wichtigste in der Hundeerziehung.

Früher sind wir alle zwei oder drei Jahre mit unserem Wohnmobil nach Israel gefahren. Von unseren Kindern hat jedes eine Zeitlang in Israel gelebt. Ich habe ihnen immer gesagt: Ihr sollt euch nicht verstecken, sondern stolz darauf sein, dass ihr Juden seid.

Natürlich haben mich viele in Israel gefragt, was ich ausgerechnet in Deutschland mache. Ich habe ihnen gesagt: Ich habe eine Aufgabe in Deutschland. Denn hier gab es lange fast überhaupt keine Juden mehr. Aber den Antisemitismus gab es weiter, auch ohne Juden, das ist ein Phänomen. Darum ist es so wichtig, dass wir uns zeigen als Juden, gerade denen, die keinen von uns kennen.

auszeichnung Das vergangene Jahr war sehr ereignisreich: Im September habe ich meinen 80. Geburtstag mit vielen Gästen gefeiert. Kurz danach habe ich das Bundesverdienstkreuz bekommen. Ich habe mich sehr gut mit dem Bundespräsidenten Joachim Gauck unterhalten. Ich sagte ihm, dass er für mich ein Leuchtturm ist, ein ganz großes und positives Gegenbeispiel zu dem Deutschland meiner Kindheit.

Ich glaube, dass ich der erste Jude bin, der in Island geboren wurde. Dorthin waren meine Eltern 1935 aus Berlin geflohen. Das war ein Jahr vor meiner Geburt. In Island betrieb mein Vater eine Lederwarenwerkstatt, doch dann wurde er denunziert. 1938 sollten wir nach Deutschland abgeschoben werden. Es gelang meinen Eltern, mit mir und meiner Schwester in Dänemark unser Schiff zu verlassen, dort bekamen wir eine Aufenthaltserlaubnis. Meine Eltern waren glücklich darüber, in Dänemark zu sein.

1940 wurde Dänemark zwar von den Nazis besetzt, aber die Dänen mochten die Nazis nicht. Bis 1942 konnten wir ruhig leben. Dann, nach der Wannsee-Konferenz in Berlin, wurde es in allen von den Deutschen besetzten Ländern viel schwieriger. Bis Herbst 1943 mussten wir innerhalb Dänemarks dauernd von einem Ort zum anderen flüchten. In der Zwischenzeit hatte ich noch zwei Schwestern bekommen, wir waren mittlerweile also vier Kinder.

Als es sich immer mehr zuspitzte, organisierten die Dänen im Oktober 1943 Flüchtlingsboote. Sie brachten die Juden über die Ostsee nach Schweden. Auch meinen Eltern gelang es so, zu fliehen. Doch wir vier kleinen Kinder durften nicht bei ihnen auf dem Fischkutter bleiben, weil die Gefahr bestand, dass wir weinen und entdeckt werden würden. Darum sagten die Dänen meinen Eltern, dass wir in einem eigenen Boot nachkommen sollten. Dieses Boot kam aber nie. Ich war damals sieben Jahre alt und wusste nicht, dass ich meine Eltern erst zwei Jahre später wiedersehen würde.

kinderheim Meine Schwester und ich wurden auf die Insel Fünen in ein Kinderheim gebracht, das auf einem Bauernhof untergebracht war. Dort lebten außer uns lauter blonde, dänische Kinder. Nur wir hatten diese auffälligen dunklen Lockenköpfe.

Das war sehr gefährlich. Vor allem, weil neben dem Kinderheim ein Wäldchen war, in dem die Gestapo regelmäßig Schießübungen machte. Die evangelische Leiterin des Kinderheims hatte große Angst um uns. Sie sagte, dass es die Soldaten auf schwarzhaarige Kinder abgesehen hätten, das Wort Juden erwähnte niemand.

Dadurch war klar, dass wir uns verstecken mussten, also rannten wir immer in die Scheune, ins Heu. Einmal hat dort ein Soldat eine meiner Schwestern entdeckt, weil sie unvorsichtig war, ein Arm schaute aus dem Versteck heraus. Da zog er sie aus dem Heu und sagte: »So eine kleine Tochter habe ich auch in Hamburg.« Dann hat er sie wieder versteckt und den anderen Soldaten nichts davon erzählt. Wir Geschwister haben sehr zusammengehalten in diesen zwei Jahren. Wir hatten auch danach immer einen sehr engen Kontakt zueinander, so blieb das unser Leben lang.

kriegsende Als der Krieg vorbei war, haben meine Eltern lange gesucht, bis sie uns fanden. Sie wussten anfangs überhaupt nichts, nicht einmal, ob wir noch lebten. Im Krieg und danach bekam ich noch drei weitere Geschwister, wir waren nun also insgesamt sieben Kinder.

Wir lebten noch zehn Jahre in Dänemark. Aber es waren harte Zeiten: Mein Vater bekam keine Arbeitserlaubnis, er hat sich deshalb wieder selbstständig gemacht, um uns zu ernähren. Er hatte das dänische Klima satt, den Wind und den Regen. Deutschland war sein Sehnsuchtsland. Er wollte wegen des Wetters so weit südlich wie möglich wohnen, so kamen wir schließlich 1955 nach Konstanz.

Dort war die Stimmung uns gegenüber feindselig. Wir bekamen lange keine Wohnung und mussten in der Jugendherberge leben; sie war in einem Wasserturm untergebracht, den man nicht heizen konnte. Später hatten wir zu neunt eine Dreizimmerwohnung und haben nur in zwei Zimmern gelebt, weil im dritten die Lederwarenwerkstatt meines Vaters war. Erst später, mit den Entschädigungsgeldern, konnte mein Vater ein Haus bauen.

film Ich habe eine Lehre in einer Lederwarenfabrik gemacht und später als Farbmacher gearbeitet. 1966 kam der Landesverband Südbaden der Jüdischen Gemeinde auf mich zu: So wurde ich Friedhofsverwalter in Freiburg.

Inzwischen gibt es nicht mehr viele jüdische Zeitzeugen. Der linksalternative Radiosender Radio Dreyeckland in Freiburg hat 2002 ein Projekt mit einigen von uns gemacht. Wir haben aus unserem Leben erzählt. Daraus entstanden ein Buch und eine CD mit dem Titel Wenn wir weg sind, ist alles nur noch Geschichte. Auch der isländische Autor Einar Heimisson, der leider nicht mehr lebt, hat unsere Familiengeschichte für seinen Roman Ins Land des Winters aufgegriffen. 2014 kam dann noch ein Film von Marcel Sorge und Benedikta Schradi dazu – Felix, eine jüdische Odyssee.

Ungefähr zweimal im Monat werde ich auch von Schulen aus der ganzen Umgebung eingeladen. Dort erzähle ich über meine Kindheit. Das tut mir gut. Bevor ich damit anfing, habe ich oft unruhig geschlafen. Durch das Reden kommt das Gift aus meinem Körper.

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