Lockdown

»Überfordert und erschöpft«

Kümmern sich im Jüdischen Psychotherapeutischen Beratungszentrum in Frankfurt um Familien: Geula ben Kalifa-Schor (l.) und Susi Ajnwojner Foto: Rafael Herlich

Frau Ajnwojner, Frau ben Kalifa-Schor, erleben Sie in der Corona-Pandemie eine Zunahme von Beratungsanfragen von Eltern?
Susi Ajnwojner: Ja, und das betrifft alle Altersgruppen. Was wir auch erleben, sind vermehrt Anfragen von Jugend- und Sozialämtern. Wir haben den Eindruck, dass die Pandemie wie ein Verstärker auf Probleme, Konflikte und Spannungen wirkt, die es in Familien schon zuvor gegeben hat. Dinge geraten in den Fokus, die man vor der Pandemie noch gut gemanagt hat.
Geula ben Kalifa-Schor: Ich bin seit 1993 niedergelassen. Ich habe noch nie eine Zeit mit so vielen Anmeldungen in den Praxen und hier erlebt. Ich denke, Familien haben eine gewisse Art von Zusammenspiel entwickelt, wie man ein internes Gleichgewicht beibehält. Das muss man jetzt wahrscheinlich neu finden. Es ist nicht so einfach.

Mit welchen Anliegen wenden sich derzeit Eltern oder Ämter an Sie?
Geula ben Kalifa-Schor: Die Anliegen sind breit gefächert. Die Ängste haben sich verstärkt. Die Pandemie bedeutet, dass wir etwas Bedrohliches haben, das unsichtbar und unbekannt ist. Es ist sehr schwierig, damit umzugehen.
Susi Ajnwojner: Beim Jugendamt geht es hauptsächlich um getrennt lebende Familien, die Regelungen für das Sorgerecht und das Umgangsrecht mit den Kindern hatten oder haben. Durch die Pandemie und die Beschränkungen ist das unter Druck geraten und muss neu verhandelt werden.

Wie hat sich der monatelange Lockdown auf Kinder und Jugendliche ausgewirkt?
Geula ben Kalifa-Schor: Es geht um eine unsichtbare, unbekannte und tödliche Bedrohung. Für jüngere Kinder ist das Thema Sterben oder Angst vor dem Tod etwas sehr Grundsätzliches. Bei älteren Kindern und Jugendlichen habe ich vermehrt starke Depressionen oder Aggressionsdurchbrüche erlebt. Jugendliche durchlaufen ja auch hormonelle Veränderungen. Sie bewirken innere Unruhe. Damit fertig zu werden, ist sehr schwierig.

Was macht Kindern und Jugendlichen besonders zu schaffen?
Geula ben Kalifa-Schor: Das Fehlen des alltäglichen Rhythmus, der inneren Halt gibt. Es ist für Jugendliche noch schlimmer als für Kinder, weil die Gruppe der Gleichaltrigen für ihre psychosexuelle oder ethnische Identitätsfindung sehr wichtig ist. Wenn das fehlt, dann kann man zudem weniger soziale Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickeln. Es fehlt auch die körperliche Zärtlichkeit von den Eltern, Großeltern, Mitschülern und Freunden. Man darf einander nicht anfassen. Das ist sehr wesentlich für die Entwicklung der Kinder.
Susi Ajnwojner: Den Kindern und Jugendlichen fehlt die Gruppe der Gleichaltrigen, weil sie in dem Alter besonders wichtig für die Abgrenzungen und Autonomiebestrebungen ist. Sich auszuleben und auszutauschen, auch einmal über die eigenen Eltern und die ganze Situation zu schimpfen, schafft eine gewisse Entlastung. Diese Entlastung fällt unter Corona weg.

Spielt die Online-Sucht eine stärkere Rolle?
Geula ben Kalifa-Schor: Der Umgang mit den digitalen Medien ist ein riesiges Problem in unserer Zeit. Das Mobiltelefon ist für viele zentral. In der Zeit der Pandemie haben Kinder mehr mit Medien zu tun als mit echten sozialen Beziehungen. Was das bewirken wird, wissen wir noch gar nicht. In der virtuellen Welt kann man alles lösen. Aber die Realität ist komplexer.

Welche Probleme zeigen sich darüber hinaus?
Susi Ajnwojner: Die Jüngeren erleben ihre Eltern, auch wenn sie sich viel Mühe geben, als verunsichert. Das ist eine Situation, die wir alle so nicht kennen. Diesen Schutz, den wir den Kindern geben wollen, was auch unsere größte Aufgabe ist, kriegen wir in der Pandemie nicht mehr so gut hin. Das ist schwierig, auch für Kinder.
Geula ben Kalifa-Schor: Das Gleichgewicht zwischen Nähe und Distanz im innerfamiliären Zusammenspiel ist durcheinandergeraten. Neben den anderen Störungen kann es zu Schlafstörungen bei den Kindern und den Eltern kommen. Das wird oft unterschätzt. Eine der Aufgaben der Eltern ist es, die Kinder zu beruhigen und sie in den Schlaf zu bringen. Sind die Eltern überfordert, kommen sie selbst nicht zur Ruhe und können nicht schlafen, das ist ein großes Problem.

Welche Altersgruppen sind derzeit am stärksten von psychischen Problemen betroffen?
Susi Ajnwojner: Jede Altersgruppe hat ihre Aufgabe in der Entwicklung zu bewältigen. Da gibt es unterschiedliche Schwierigkeiten. Bei den Jüngeren geht es mehr um den Schutz durch die Eltern, die als verunsichert wahrgenommen werden. Bei den Jugendlichen wiegt das Fehlen der Gleichaltrigen schwer. Es scheint so, als wäre es für die Jugendlichen schwieriger im Moment. Wenn man sich unter Corona-Bedingungen nicht so frei bewegen kann und der Ausgleich durch Sportvereine oder Jugendzentren fehlt, werden schwierige Phasen noch problematischer.

Welche Faktoren führen zu einem besonderen Risiko psychischer Probleme in der Pandemie?
Susi Ajnwojner: Ich denke, dass vorbestehende psychische Belastungen reaktiviert werden. Das scheint mir ein Risikofaktor zu sein. Wir erleben vermehrt Wiederanmeldungen von Menschen, die schon einmal hier waren und Beratung oder Therapie hatten.

Gibt es wiederum Faktoren, die Schutz vor psychischen Belastungen im Lockdown bieten?
Geula ben Kalifa-Schor: Es gibt äußere und innere Faktoren. Ein äußerer Faktor ist zum Beispiel die Bildungsaffinität der Familie. Es ist zudem sehr wichtig, dass man nicht die ganze Zeit aufeinandersitzt, weil das Aggressionspotenzial birgt. Zu den inneren Faktoren zählen der eigene Charakter, Befindlichkeit und Neigungen, die zusammenwirken.

Was lässt sich tun, um die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie zu schützen?
Geula ben Kalifa-Schor: Es ist wichtig, dass man zu Hause, in der Familie miteinander im Gespräch bleibt. Die Beziehung zu den Kindern ist sehr wichtig. Wenn das im Gespräch möglich ist, gibt es der ganzen Familie einen Zusammenhalt. Es ist sehr wichtig, dass man das Gefühl hat: Wir halten zueinander, wir versorgen einander, ich bin für dich da, wenn es darauf ankommt.
Susi Ajnwojner: Wir haben jetzt ein Jahr Pandemie hinter uns. Ein gemeinsamer tröstlicher Gedanke, was man schon alles geschafft hat, dass man sich gegenseitig schützen kann, ist daher wichtig.

Wie erleben Sie derzeit die Eltern?
Susi Ajnwojner: Wir erleben sie überfordert und erschöpft. Die Konflikte sind deutlicher. Die Eltern leben aber in einer Ungewissheit, wie lange es noch geht und die eigene Kraft noch reicht, das alles gut für die Kinder und sich selbst zu meistern. Es ist nicht nur so, dass die Eltern sich um die Kinder sorgen. Es ist vielleicht etwas spezifisch Jüdisches, dass die Kinder sich um die Eltern und Großeltern sorgen und da ein Stück Verantwortung übernehmen. Man spricht von einer Rollenumkehr, die als Folge der Schoa verstanden werden kann. Der Gedanke, ob man durch das eigene Verhalten die Eltern gefährdet, ist neu dazugekommen.

Haben jüdische Eltern, die zu Ihnen kommen, besondere Anliegen oder Problematiken?
Geula ben Kalifa-Schor: Jüdische Menschen sind sensibler für Bedrohungen. In der jüdischen Tradition hat man öfter Ängste. Die Tendenz ist so, dass nicht nur wir mehr Ängste haben, wenn etwas unsichtbar, unbekannt und bedrohlich ist, sondern auch die anderen neigen dazu, es Juden anzulasten.

Nimmt der Antisemitismus auch an Schulen weiter zu?
Geula ben Kalifa-Schor: Ja. Wir haben das Problem unter Jugendlichen, dass der Antisemitismus sowohl von der rechten als auch von der muslimischen Seite kommt. Er richtet sich oft gegen Israel. Eine Aversion gegen Juden wird deutlich.

Wie gehen jüdische Schüler damit um?
Geula ben Kalifa-Schor: In meiner Praxis beobachte ich, dass nichtjüdische Jugendliche mehr über Antisemitismus sprechen als jüdische. Es gibt eine Tendenz unter jüdischen Jugendlichen, es zu verdrängen. Sie schämen sich und wollen die Eltern beschützen. Außerdem wollen sie sich nicht zu sehr damit beschäftigen.

Was können jüdische Gemeinden oder Ins­titutionen tun, um Familien in der gegenwärtigen Situation zu unterstützen?
Susi Ajnwojner: Wichtig ist, dass die Gemeinden mit ihren Mitgliedern in Kontakt bleiben – etwas aktiver, als sie es tun. Es gibt in Frankfurt einen Treffpunkt für Schoa-Überlebende. Sie bemühen sich sehr um die alten Menschen. Sie waren auch bei Impfungen behilflich. Da ist etwas getan worden.

Gibt es etwas, das Ihnen nach einem Jahr Pandemie Hoffnung gibt?
Geula ben Kalifa-Schor: Es ist sehr wichtig, dass man sich jetzt vermehrt kümmert. Es ist ein Zusammenhalt zwischen Eltern und Kindern entstanden. Kinder und Jugendliche erleben, dass wir alle auch verwundbar sind. Dadurch wird man in die Sorge hineingezogen und wird nachdenklicher. Man versteht, dass nicht alles möglich und grenzenlos ist.
Susi Ajnwojner: Was mir Hoffnung gibt, sind die Impfungen und Testungen. Dadurch können Angebote für Kinder wieder geöffnet werden. Dadurch wird mehr normales Leben möglich, und das kann entlastend sein.

Das Gespräch führte Eugen El.

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