Interreligiöser Dialog

»Offen für alles«

Rabbiner Gabor Lengyel plant ein Musikprojekt für Flüchtlinge. Foto: imago

Gabor Lengyel macht etwas, das es, zumindest in Hannover, noch nicht gegeben hat. Gemeinsam mit der islamischen Theologin Hamideh Mohagheghi liest er wechselseitig aus der Tora und dem Koran, unter Berücksichtigung spezieller Themen wie »Gebet«, »Nächstenliebe« und »Gewalt«. Wunderbare Veranstaltungen seien das, sagt er, die er jedem ans Herz lege.

Gabor Lengyel ist Gründungsmitglied und Rabbiner der Liberalen Jüdischen Gemeinde in Hannover. Er bezeichnet sich als »liberal-konservativ und offen für alles«. Seit Jahren engagiert er sich im interreligiösen Dialog. Seit Flüchtlinge nach Hannover gezogen sind, setzt er sich auch für sie ein, denn »das Leben als Flüchtling, das Lernen einer neuen Sprache, die Integration in einem fremden Land, das habe ich alles selbst erlebt, und ich weiß, ich kann etwas tun – als Rabbiner und aufgrund meiner eigenen Erfahrungen«.

Familiengeschichte Gabor Lengyel ist 75 Jahre alt, was man ihm jedoch nicht ansieht. Fahrradfahren hält ihn fit, sagt
er. Von seinem Wohnzimmerfenster aus schaut er auf den hannoverschen Maschsee und bunt gefärbte Bäume. Im Raum stehen viele Bücher neben Kunst, Familienfotos und Erinnerungen an Israel. Gabor Lengyel spricht vier Sprachen fließend: Ungarisch, Iwrit, Deutsch und Englisch. Er lehnt sich in seinem Sessel etwas zurück und erzählt seine Lebensgeschichte.

Mitten im Krieg, im Januar 1941, wurde er im Budapester Ghetto geboren. Seine Mutter wurde 1944 nach Ravensbrück deportiert und kam nicht mehr zurück. Von ihren letzten Tagen erfuhr er durch das Buch einer Überlebenden: Zug ins Verderben, der Bericht über eine Todesfahrt von Ravensbrück nach Burgau im Frühjahr 1945. Hunderte von Frauen für 16 Tage in Viehwaggons eingepfercht, erzählt Lenyel.

Der Vater starb im Jahr 1956. »Wenige Wochen später, am 23. Oktober, brach der Aufstand aus. Ich bin mitmarschiert.« Als der Aufstand niedergeschlagen wurde, flüchteten Lengyel und sein Bruder nach Österreich. An der Grenze wurden sie in Auffanglager eingewiesen. »Ich weiß, was es bedeutet, in Turnhallen zu schlafen.«

Israel In Wien rät ihm ein befreundeter Rabbiner zur Auswanderung: »Geh nach Israel. Israel braucht dich.« Und so wurde Gabor Lengyel Israeli. In einem Jugenddorf bei Ramla lernte er Landwirtschaft und Hebräisch. »Für einen Jungen aus dem Budapester Stadtzentrum, der noch nie eine Kuh oder einen Traktor gesehen hatte, war das nicht einfach. Und dazu noch die Sprache – ich konnte zwar sehr gut beten, aber ich habe nichts verstanden.«

Lengyel arbeitet, leistet seinen Armeedienst ab und macht dabei extern Abitur. Der Wunsch nach einem Studium droht am Geldmangel zu scheitern. »Ich habe weltweit Briefe versandt, um ein Stipendium zu erhalten. 1965, kurz nach der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen, kam eine Zusage aus Deutschland. Was sollte ich tun? Nach Deutschland gehen, mit meiner Lebenserfahrung und ohne Sprachkenntnisse? Einer meiner Lehrer sagte: ›Das ist eine Herausforderung für dich. Auch wenn es schwierig wird – mach es‹, und er hat mich überzeugt.« In Braunschweig studierte Lengyel an der Technischen Universität und wurde Diplom-Ingenieur. Gleich nach seiner Ankunft schloss er sich der jüdischen Gemeinde an. »Das war 1965, Braunschweig noch eine Mini-Gemeinde, aber ich sagte mir: ›Immerhin bist du hier unter Juden.‹«

Hilfe Seit 1993 lebt Gabor Lengyel in Hannover. Rabbiner wurde er in seinem dritten Lebensabschnitt, nach der Pensionierung. Seine Frau Aniko, ebenfalls aus Budapest, arbeitet als Wissenschaftlerin und Projektmanagerin mit politischen Institutionen in der Landeshauptstadt zusammen. Die Lengyels sind in der Stadt bekannt. Seit 2014 engagieren sie sich für Flüchtlinge, ohne dabei jedoch auf den Promi-Faktor zu setzen. »Es ist nicht wichtig, dass du jeden Tag in der Zeitung stehst. Wichtig ist, was du tust, und das kannst du auch ganz privat machen«, sagt Lengyel.

Seine Frau sei der Motor dafür gewesen, dass sie ein Flüchtlingsheim in der Nachbarschaft besuchten, gleich, als es bezogen wurde. »Man kann viel tun, und wenn man nicht die gleiche Sprache spricht, dann hilft auch eine Umarmung«, sagt Lengyel. »Ich habe dort erst später erzählt, dass ich Jude und Israeli bin.« Ein Flüchtling aus Damaskus soll fassungslos gewesen sein. »Ihr helft uns – uns, euren Feinden?« »Ja, wir helfen euch. Ich bin gläubiger Jude, ich bin Rabbiner, und ich habe eine Muslimin umarmt, um sie willkommen zu heißen. Alles ist möglich.« Bis heute sind die Lengyels dort aktiv. Einmal im Monat veranstaltet Aniko Lengyel einen »Kaffee-Talk-Nachmittag«. Auch Ministerpräsident Stephan Weil war schon Gast und soll begeistert gewesen sein.

Als Rabbiner wollte Lengyel auch seine Gemeindemitglieder zur Mitarbeit motivieren, mit einem Zitat aus dem 5. Buch Mose: »Du sollst den Fremden lieben, weil du selbst ein Fremder warst.« Doch viele Mitglieder der liberalen Gemeinde sind schon etwas älter, sind vor 20 Jahren aus Osteuropa zugezogen, sie hatten schlicht Angst vor Gewalt, vor Antisemitismus und vor der arabischen Mentalität.

»Die Ängste sind berechtigt«, sagt Lengyel, »aber Angst war noch nie ein guter Ratgeber.« Europa und der Umgang mit der sogenannten Flüchtlingskrise, da zieht er Parallelen zur Konferenz von Evian 1938, bei der die Auswanderung von Juden aus Deutschland und Österreich ermöglicht werden sollte. »Wir sollten es heute besser machen. Wir haben jetzt die Chance dazu. Unsere Gesellschaft ist geprägt von Ängsten, aber ich muss meine Ängste überwinden, damit ich mich öffne und den anderen kennenlerne.«

Den Schlüssel dazu haben die Lengyels gefunden, mit einem neuen Projekt. Gabor Lengyels Buch Betrachte nicht den Krug, sondern dessen Inhalt erschien im Januar dieses Jahres, eine Sammlung seiner Predigten, Ansprachen und Vorträge. Mit dem Geld aus dem Verkaufserlös wollen sie Kulturgespräche mit Musik, für Flüchtlinge und mit Flüchtlingen, organisieren. »Die Musik kann vieles ausdrücken, wenn die Sprache noch fehlt.«

Trauma Beim ersten Treffen wurden arabische Lieder gesungen, beim zweiten gemeinsam getrommelt. Immer gibt es eine Einführung – mit Übersetzung – und ein gemeinsames Essen. »Diese Menschen reden nicht gern über sich selbst, über ihre Flucht und ihre Erlebnisse«, sagt Lengyel. »Aber wir haben erlebt, dass ein Mann und ein Junge aus dem Irak, die beide kaum gesprochen haben, plötzlich anfingen zu singen. Diese Menschen haben für zwei Stunden ihre Alltagsprobleme und Traumata vergessen und etwas wie Freiheit gefühlt.«

Für künftige Treffen sind besonders Flüchtlinge herzlich eingeladen, die Musikinstrumente spielen. Auch gemeinsame Projekte mit der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover sind in Planung. Es können einfache Dinge sein, denn erst einmal gehe es darum, eine Vertrauensbasis aufzubauen, meint Gabor Lengyel. Es gehe um einen behutsamen Umgang mit der anderen Kultur und ein vorsichtiges Heranführen an die eigene – um Geben und Nehmen.

Und wie sieht es mit der vielstimmigen Forderung nach Integration aus? Lengyel winkt ab. »Integration – dieser Begriff ist in den ersten Jahren in meinen Augen vollkommen falsch. Das kommt erst viel, viel später. Meine Frau sagt: Bis sie wirklich integriert war, hat es zehn Jahre gedauert. In den ersten Jahren sprechen wir über Annäherung und ein Dach über dem Kopf, Sprache, Ausbildung, Arbeit und ein langsames Knüpfen von Beziehungen zu deutschen Freunden.« Ein sehr langsamer Prozess. »Aber jeder kann etwas tun. Meine Botschaft als Mensch und als Rabbiner lautet: ›Öffnet euch!‹«

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