Porträt der Woche

Malen, malen, malen

»Eine meiner ersten Ausstellungen in Deutschland fand in der Jüdischen Gemeinde statt«: Gennady Karabinskiy (68) aus Oldenburg Foto: Andreas Burmann

Porträt der Woche

Malen, malen, malen

Gennady Karabinskiy fing als Kind mit Kneten an – heute ist er Künstler

von Eugen El  30.01.2024 12:40 Uhr

Es gibt eine alte Anekdote über Marc Chagall: Als er in Südfrankreich lebte, sprach man ihn immer mit »Maître«, Meister, an. Und Chagall pflegte zu erwidern: »Ich bin kein Maître, sondern nur ein Millimeter.« Wenn selbst Chagall sich für klein und unbedeutend hielt, was soll ich erst sagen?

Ich habe seit der Kindheit gemalt. Im Alter von vier begann ich, mit Knetmasse zu arbeiten und kleine Figuren zu formen. An die Knete kam ich zufällig über unsere Nachbarn ran. Dann ging es mit Farben weiter. Allerdings haben mich meine Eltern darin nicht unterstützt. Im Gegenteil, wenn meine Mutter mich bestrafen wollte, versteckte sie die Knetmasse. Für mich war es eine Katastrophe, denn ich konnte mich sehr gut ins Kneten vertiefen.

Geboren wurde ich 1955 in Baranowi­tschi in Belarus. Vater und Mutter gingen arbeiten, und ich war das, was man in Deutschland ein »Schlüsselkind« nennt: Ich hatte immer den Wohnungsschlüssel um den Hals hängen. Unsere Familie war nicht religiös. Wir hielten jüdische Traditionen nicht ein. Mein Vater war Soldat im Zweiten Weltkrieg und Parteimitglied. Meine Mutter war kein Parteimitglied und hasste die sowjetische Führung inbrünstig. Wirklich inbrünstig! Das begriff ich erst, als ich erwachsen wurde.

Russisch und Jiddisch

Meine Großeltern konnten schlecht Russisch, sie sprachen Jiddisch. Aber meine Eltern unterhielten sich auf Russisch miteinander. Wenn sie wollten, dass wir Kinder sie nicht verstehen, damit wir nicht etwas ausplaudern – als es etwa um Politik, den sowjetischen Staat oder das Wirken der Kommunistischen Partei ging –, wechselten sie ins Jiddische.

Die Schule war russischsprachig, einige Fächer wurden allerdings in weißrussischer Sprache unterrichtet. Antisemitismus bin ich erstmals im Belarussisch-Unterricht in der fünften Klasse begegnet. Der Lehrer verteilte die korrigierten Diktate und tadelte einen belarussischen Schüler, er habe beim Diktat schlecht abgeschnitten – er sei doch Weißrusse und nicht »irgendein Jude«! Und ich saß daneben und musste mir das anhören.

Meine Frau lernte ich 1983, nach dem Studium, beim Bau der Baikal-Amur-Magistrale kennen. Als 1985 unser Kind zur Welt kam, zogen wir ins damalige Leningrad. Wir verbrachten viel Zeit in Museen und Ausstellungen. 1987 waren wir im Ethnografischen Museum. Dort suchten wir eine Ausstellung zum jüdischen Volk – wurden aber nach einem langen Rundgang nicht fündig. Also fragte ich eine Museumsaufsicht, wo diese Ausstellung zu finden sei. Sie schaute mich an und sagte: »Welche Ausstellung kann es über Juden geben? Wer sind die Juden? Juden sind Hirten und Banditen. Welche Kultur können sie denn haben?« Ich fragte mich, was das soll. Nach diesem Erlebnis begann ich, mich in das jüdische Thema zu vertiefen.

Als Putin an die Macht kam, sagte ich zu meiner Frau: »Wir wandern aus.«

In den 90er-Jahren wussten wir in Sankt Petersburg noch einigermaßen, woran wir sind, auch wenn wir immer wieder Alltagsantisemitismus erlebten. Als aber Putin an die Macht kam – erst durch den Umsturz im Dezember 1999 und dann durch die Wahlen im darauffolgenden Jahr –, sagte ich zu meiner Frau: »Wir wandern aus.« Das war wie ein Urteil. In diesem Land konnte ich nicht mehr leben! Es war uns egal, wohin wir gehen. Meine Frau ist nicht jüdisch, also ist auch unsere Tochter keine halachische Jüdin. In Israel hätte ihr das Probleme beschert. Also haben wir Unterlagen für eine Auswanderung nach Deutschland eingereicht – und warteten erst einmal vier Jahre.

Im August 2004 kamen wir nach Oldenburg. Seitdem leben wir dort. Ich arbeite als freischaffender Künstler – seit dem ersten Tag. Die erste Ausstellung in Deutschland hatte ich schon 2005. Früher war mehr los, jetzt stelle ich deutlich weniger aus. In all diesen Jahren – und ich hatte etwa 100 Ausstellungen – sagte ich den Galeristen immer: Ich bin ein jüdischer Künstler. Nie hat in all den Jahren auch nur ein Galerist mich so angekündigt. Ich war ein russischer Künstler, ein Künstler aus Russland, ein Künstler aus Sankt Petersburg – nie aber ein jüdischer Künstler!

Mitglied der Oldenburger Gemeinde

Ich bin Mitglied der Oldenburger Gemeinde. Eine meiner ersten Ausstellungen fand dort statt. Daraufhin wurde ich in den Künstlerverband aufgenommen. Die damalige Gemeindevorsitzende Sara-Ruth Schumann hat die Ausstellung organisiert und mir sehr geholfen. Sie hatte die Jüdische Gemeinde in Oldenburg 1992 wiedergegründet.

Als wir nach Deutschland kamen, haben wir einige Ausstellungen zeitgenössischer Künstler besucht. Für mich war es eine traurige Angelegenheit. Aus der Perspektive, die mir meine Lehrer beigebracht haben, ist das keine Malerei. Die Bilder lassen mehr an Grafikdesign denken. Malerei ist aber mehr: Es geht nicht nur um die Weitergabe ästhetischer, sondern auch ethischer Botschaften sowie Informationen. Wie können Informationen über unsere Welt und die Dinge, die uns bewegen, an die nächste Generation weitergegeben werden, wenn man sich diese heutigen Übungen anschaut? Das ist meine persönliche Ansicht. Alles hat ein Existenzrecht.

Meine Lehrer aber dachten anders. Sie waren auch Juden: etwa Lia Alexandrowna Ostrowa, die 1948 aufgrund ihrer jüdischen Herkunft aus der Leningrader Kunstakademie verbannt wurde. Um ein Stück Brot zu ergattern, musste man damals Porträts der sowjetischen Anführer malen. Das brachte sie nicht übers Herz. Sie hat kein einziges Bildnis von Wladimir Iljitsch Lenin gemalt – kein einziges.

Lia Alexandrowna kommt aus der künstlerischen Traditionslinie von Ilja Repin, Valentin Serow und Isaak Brodski. Sie war Brodskis Schülerin. Sie war eine wunderbare Malerin. Bei ihr habe ich studiert. Ihr Mann, Pjotr Iwanowitsch Strakhow, war ein hervorragender Kopist. In fast allen Museen in Petersburg und Umgebung hängen seine Kopien. Einmal habe ich Lia Alexandrowna und Pjotr Iwanowitsch besucht – und erblickte ein Bild von Edgar Degas. Ich dachte: Die leben aber gut, dass sie zu Hause einen Degas haben! Dann aber sagte Pjotr Iwanowitsch, das sei eine Kopie, er übe lediglich. Er hat aber nie, wie die nächste Generation, die Kopien als Originale ausgegeben, um sie zu verkaufen und ein Vermögen zu machen.

Verschiedene Wege und Ausdrucksformen des Jüdischen in der Kunst

Es gibt verschiedene Wege und Ausdrucksformen des Jüdischen in der Kunst. Ich versuche, die Psychologie eines Jüdischseins zu erspüren, das es heute nicht mehr gibt. Diese Juden lebten in Belarus, in der Ukraine – im zaristischen Ansiedlungsrayon. Ich versuche, das Leben der Menschen nachzuvollziehen, die es unter ungeheurem Druck schafften, zu überleben und zu bestehen – und mehr noch, bei aller Finsternis die Hoffnung auf die Zukunft und den Sieg des Guten innerlich zu bewahren und an die nächste Generation weiterzugeben. Der Maler Chaïm Soutine ist mir am Nächsten. Er ist ein Gigant. Sein Weg von der Düsternis zur Hoffnung inspiriert mich.

Über die russische Gesellschaft möchte ich nicht sprechen. Als wir nach Deutschland fuhren, dachte ich, dass die Deutschen anders sind. Das ist aber leider nicht der Fall. Dasselbe Unwissen, dieselbe Ignoranz, selbst in Bezug auf die eigene Kultur. Während einer Ausstellung wurde ich von einer Reporterin interviewt.

Sie schaute sich mein Bild an und fragte, was es mit der Symbolik auf sich hat. Und ich sagte ihr: Das ist die Jakobsleiter! Sie schaute mich fragend an. Ich fragte sie, ob sie wisse, was die Jakobsleiter ist – die Reporterin verneinte es. »Haben Sie denn wenigstens das Evangelium – von der Tora spreche ich gar nicht – gelesen?« »Nein.« Wie soll man mit jemandem sprechen, der nicht einmal die Grundlagen der eigenen Kultur kennt?

Ehrfurcht, Liebe und große Sorge

Auf Israel schaue ich mit Ehrfurcht, Liebe und großer Sorge. Wir waren mehrmals dort. Was immer ich als Künstler mache: Für die Israelis ist das Diaspora, also etwas Nicht-Israelisches. Sie sind freie Menschen, sie sind Israelis. Sie orientieren sich an zeitgenössischer Kunst, die ich als amerikanische Kunst bezeichne. Diese Kunst hat keine Traditionen. Die jüdische Kunst hingegen fragt zunächst nach den Wurzeln.

Ich möchte in jedem meiner Kunstwerke, egal wie kompliziert, düster und blutig die Situation um uns herum gerade ist, wenigstens etwas Licht der Hoffnung zeigen. Ich hoffe, dass die Menschen irgendwann den Hass überwinden. Meine Arbeit im Atelier folgt einem festen Rhythmus, den mir Lia Alexandrowna beigebracht hat. Meine Zukunftspläne sind einfach: künstlerisch arbeiten, solange ich kann.

Aufgezeichnet von Eugen El

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