Buch

Jüdisch im Sauerland

Hans-Ulrich Dillmanns Buch ist eine Rechercheleistung, die man sich für jeden Ort wünscht.

Buch

Jüdisch im Sauerland

Hans-Ulrich Dillmann aktualisiert seine Studie über die Gemeinde in Lüdenscheid

von Martin Krauß  05.01.2025 17:04 Uhr

Lüdenscheid ist eine weder große noch kleine Stadt am Rand des Sauerlandes. Eine normale Kommune mit etwas über 70.000 Einwohnern. Viele Juden haben dort nie gelebt, aber eine kleine Gemeinde konnte sich immerhin etablieren. Insgesamt sind es etwa 270 Juden, von denen man weiß, dass sie in Lüdenscheid gelebt haben und unter der NS-Herrschaft verfolgt oder ermordet wurden.

Es ist die von der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft geprägte Normalität Lüdenscheids, die eine jüngst in gründlich überarbeiteter dritter Auflage erschienene Studie wertvoll macht. Schicksale der Jüdinnen und Juden aus Lüdenscheid heißt sie, wurde geschrieben von Hans-Ulrich Dillmann, einem früheren Redakteur dieser Zeitung. Für den Geschichts- und Heimatverein hat Dillmann diese Fleißarbeit übernommen.

Ein bekannter jüdischer Lüdenscheider war der Komponist Kurt Weill

Er stellt die Biografien dieser 270 Menschen vor – für die dritte Auflage konnte er die Lebensgeschichten von 15 weiteren aufspüren. Alphabetisch reicht seine Personenrecherche von »Artmann, Abraham«, der mit seiner Familie nach Amerika fliehen konnte und von dessen Bruder Leo Artmann man nur weiß, dass er »in einem der Vernichtungslager im Osten Europas« ermordet wurde, bis »Wolff, Laura«, die im Alter von 47 Jahren 1942 im Ghetto Zamość ermordet wurde.

Ein bekannter jüdischer Lüdenscheider war der Komponist Kurt Weill – aber nur kurz Anfang der 1920er-Jahre. Nach seiner Zeit als Kapellmeister am Lüdenscheider Stadttheater war er froh, vom Sauerland nach Berlin zu gehen, wo er mit Bertolt Brecht die Dreigroschenoper schrieb.

Aus Lüdenscheid stammt auch die Familie Lennhoff. Schon 1756 wird ein »Leifmann Lazarus« schriftlich erwähnt, die Behörden machten aus seiner Familie Mitte der 1850er-Jahre die Familie Lennhoff. Sie ist eng mit der Stadtgeschichte verbunden. Der Kaufmann Hugo Lennhoff etwa betrieb ein Modegeschäft und war zugleich in der kleinen Synagogengemeinde aktiv. Die Eheleute Hugo und Ella Lennhoff mussten 1934 nach Boykottaktionen ihr Geschäft an die Essener »Konsum-Anstalt Hartleif« verkaufen. Ella Lennhoff wurde als Geschäftsführerin gekündigt, Hugo starb 1937 nach einem Schlaganfall.

Ella Lennhoff gelang es, nach Palästina zu fliehen, wo ihre Tochter seit 1936 lebte. Die Familie Lennhoff war weit verzweigt. Einige kamen in den Vernichtungslagern der Nazis um, andere starben verarmt in den 30er-Jahren, und einer Verwandten, Hildegard Lennhoff, gelang es, sich der Deportation zu entziehen; sie lebte als »U-Boot« in ständig wechselnden Verstecken. Im März 1945 hielt sie sich in Würzburg auf, wo sie Opfer eines Angriffs der britischen Luftwaffe wurde. Sie starb und wurde 1946 als »verschollen« erklärt.

Dillmanns Buch ist eine Rechercheleistung, die man sich für jeden Ort wünscht

Solche Familiengeschichten sind es, die die statistischen Angaben, die es auch über Lüdenscheider Juden gibt, lebendig werden lassen. Dillmanns Verdienst ist es, dass durch seine Recherche Menschen, die man gemeinhin als unbekannt, unauffällig, ja, als normal bezeichnet, vor dem Vergessen bewahrt werden. Es sind die Familie Lennhoff oder der Wäschevertreter Abraham Artmann, an den erinnert wird.

Andere Lebensgeschichten verweisen zum Beispiel auf den Inhaber eines Textilgeschäfts, auf eine Haushälterin, einen Werkzeugmacher, einen Schaufenster­dekorateur oder auf eine Familie, die eine Metzgerei betrieb. Etliche von ihnen waren getauft und sich oftmals ihrer jüdischen Herkunft nicht bewusst. Es waren normale Menschen. Dillmanns Buch ist eine Rechercheleistung, die man sich für jeden Ort wünscht. Und die zugleich auch dann die Lektüre lohnt, wenn man biografisch mit der Stadt Lüdenscheid nichts zu tun hat.

Hans-Ulrich Dillmann: »Schicksale der Jüdinnen und Juden aus Lüdenscheid«. Hrsg. vom Geschichts- und Heimatverein Lüdenscheid. Aktualisierte Auflage 2024, 408 S., 19,80 €

Umfrage

»Wir lassen uns nicht unterkriegen«

Trotz des erschütternden Terroranschlags in Sydney wollen sich viele Mitglieder der jüdischen Gemeinden in Deutschland nicht den Mut rauben lassen, öffentlich Chanukka zu feiern. Ein Stimmungsbild

von Christine Schmitt, Helmut Kuhn, Nicole Dreyfus, Ulrike Gräfin Hoensbroech  17.12.2025

Interview

Holocaust-Überlebender Weintraub wird 100: »Ich habe etwas bewirkt«

Am 1. Januar wird Leon Weintraub 100 Jahre alt. Er ist einer der letzten Überlebenden des Holocaust. Nun warnt er vor Rechtsextremismus und der AfD sowie den Folgen KI-generierter Fotos aus Konzentrationslagern

von Norbert Demuth  16.12.2025

Magdeburg

Neuer Staatsvertrag für jüdische Gemeinden in Sachsen-Anhalt

Das jüdische Leben in Sachsen-Anhalt soll bewahrt und gefördert werden. Dazu haben das Land und die jüdischen Gemeinden den Staatsvertrag von 2006 neu gefasst

 16.12.2025

Bundestag

Ramelow: Anschlag in Sydney war Mord »an uns allen«

Erstmals gab es in diesem Jahr eine Chanukka-Feier im Bundestag. Sie stand unter dem Eindruck des Anschlags auf eine Feier zum gleichen Anlass am Sonntag in Sydney

 16.12.2025

Attentat in Sydney

»Was würden die Opfer nun von uns erwarten?«

Rabbiner Yehuda Teichtal hat bei dem Attentat in Sydney einen Freund verloren und wenige Stunden später in Berlin die Chanukkia entzündet. Ein Gespräch über tiefen Schmerz und den Sieg des Lichts über die Dunkelheit

von Mascha Malburg  16.12.2025

Berlin

Chanukka-Licht am Brandenburger Tor entzündet

Überschattet vom Terroranschlag in Sydney wurde in Berlin das erste Licht am Chanukka-Leuchter vor dem Brandenburger Tor entzündet. Der Bundespräsident war dabei

 15.12.2025

Meinung

Es gibt kein Weihnukka!

Ja, Juden und Christen wollen und sollen einander nahe sein. Aber bitte ohne sich gegenseitig zu vereinnahmen

von Avitall Gerstetter  15.12.2025

Berlin

Straße nach erster Rabbinerin der Welt benannt

Kreuzberg ehrt Regina Jonas

 12.12.2025

Berlin

Jüdisches Museum bekommt zusätzliche Förderung

Das Jüdische Museum in Berlin gehört zu den Publikumsmagneten. Im kommenden Jahr feiert es sein 25. Jubiläum und bekommt dafür zusätzliche Mittel vom Bund

 12.12.2025