Porträt der Woche

In der Rolle aufgehen

»Die Alija war ein großer Schritt zu meiner Selbstständigkeit«: Nelly Pushkin (43) aus Stuttgart Foto: Brigitte Jähnigen

Fragt man uns nach unserem Selbstverständnis, dann kann ich sagen: Mein Mann und ich sind fast rund um die Uhr Rabbiner und Rebbetzin. Ich kann mir das gar nicht anders vorstellen. Regelmäßig laden wir Mitglieder der Gemeinde in Stuttgart, wo wir seit 2019 leben, zu uns nach Hause ein. Der Rabbiner gibt Unterricht, und ich kümmere mich um die kulinarische Stärkung. Die Termine für diese Einladungen finden sich immer in der Gemeindezeitung.

Bekanntermaßen ist es ein Gebot im Judentum, dass sich die Generationen gegenseitig mit Respekt begegnen. Deshalb haben wir in unserer Gemeinde einen großen Seniorenklub. Uns ist es wichtig, dass alle Generationen in der Gemeinde miteinander in Kontakt kommen, unsere Schulkinder von den älteren Gemeindemitgliedern lernen können. Die Jugendlichen nehmen ebenfalls an Projekten mit der Religionsschule teil. Der Rabbiner ist auch deshalb oft dort zu sehen.

Im Jugendzentrum werden außerdem Madrichim im Umgang mit Kindern mit besonderen Bedürfnissen ausgebildet. Unsere jüdische Grundschule soll ebenfalls für Kinder mit Inklusionsbedarf geöffnet werden, weshalb es bereits eine Inklusionskommission gibt. An deren Arbeit bin ich auch aktiv beteiligt. Und ein besonderes Highlight in unserer Gemeinde sind die Baby-Boxen, die bei den Eltern sehr gut ankommen. Sie enthalten neben nützlichen Dingen wie Pflegecremes auch ein T-Shirt mit dem Namen des Neugeborenen. Auf einer beiliegenden Karte wird darauf hingewiesen, wann Bar- oder Batmizwa sein könnte.

Als Kind ging ich oft in die Synagoge und besuchte das Jugendzentrum

Ich wurde in Russland geboren, bin aber in der Ukraine aufgewachsen, in Dnipro. Oberrabbiner Kamenezky war mein Rabbiner. Als Kind ging ich oft in die Synagoge und besuchte das Jugendzentrum. Außerdem habe ich dort bis zu meiner Alija im Alter von 18 Jahren das Pädagogische Frauen-College »Bet-Hanna« besucht. Die Alija war ein großer Schritt zu meiner Selbstständigkeit und bis dahin der wohl wichtigste Abschnitt in meinem Leben. So konnte ich meine innere Verbindung zu Israel viel stärker spüren als in der Diaspora.

Dann wurde es Zeit für den Schidduch. Als ich meinen zukünftigen Mann traf, war er noch Soldat in der israelischen Armee. Ich selbst war 19, als wir in Israel unter der Chuppa feierten, um eine jüdische Familie auf der Grundlage von Mizwot und Traditionen aufzubauen. Nach der Hochzeit wurde mein Mann Offizier und Militärrabbiner, und ich begann mit dem Studium. Gemeinsam mit unseren vier Kindern setzen wir die jüdische Tradition fort.

Uns ist es wichtig, alle Generationen in der Gemeinde miteinander in Kontakt zu bringen.

Seit 2011 ist mein Mann Rabbiner der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW), zuerst in Esslingen am Neckar, einer kleineren Stadt in der Nähe von Stuttgart. Eine Synagoge gab es dort damals noch nicht. Aber schon ein Jahr später erhielten wir das Fachwerkhaus der ehemaligen Synagoge als künftiges Gemeindezentrum. Damit konnte die Orts­gemeinde endlich richtig aufleben.

2016 stiftete die Stadtgemeinschaft, darunter viele Vereine, Kirchen sowie einige Moscheeverbände, gemeinsam eine Torarolle. Zeitgleich mit ihrer Vollendung tagte die Orthodoxe Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD), in der mein Mann Vorstandsmitglied ist, in der Region. Die Teilnehmer waren im Esslinger Rathaus bei der Fertigstellung und Einbringung der Torarolle ebenso mit dabei wie bei dem anschließenden wunderbaren Umzug mit Singen und Tanzen durch die ganze Stadt.

Neben Esslingen haben wir sieben weitere Orte in Württemberg mitbetreut, nur Ulm nicht. Fast jeden Schabbat waren wir unterwegs, übernachteten mit unseren Kindern entweder privat oder in Hotels. Es war uns immer sehr wichtig, als Familie den Schabbat und die Feiertage mit den Mitgliedern der Gemeinden zu verbringen. Zu den Feiertagen habe ich Aktivitäten für die Kinder mitorganisiert. Wir trafen uns im Kreis der Mütter, schmückten die Synagoge oder bastelten mit den Kindern.

Seit 2019 ist mein Mann als Rabbiner in Stuttgart tätig und auch mir fielen etliche Aufgaben zu. Wir haben einen Kindergarten, eine Grund- und Religionsschule sowie das Jugendzentrum (JUZE). Außerdem gibt es eine Mikwe, die gut besucht wird. Ich gebe Frauen Unterricht im richtigen Umgang mit der Mikwe, für die wir gerne einen Neubau hätten und
halte den Kontakt zu den Eltern in unseren Bildungseinrichtungen. Wir haben regelmäßig Opschernisch-Zeremonien sowie Bar- und Batmizwa-Feiern. Den Mädchen und ihren Eltern helfe ich oft bei der Planung. Natürlich gibt es bei uns auch Hochzeiten. Die Bräute bereite ich vor, der Rabbiner unterrichtet die Bräutigame. Vor der Hochzeit lehren wir die Paare die Gesetze der Taharat Hamischpacha, die jüdischen Familiengesetze, einschließlich der der Mikwe.

Ich bemühe mich um enge und vertrauensvolle Kontakte zu Mitgliedern und Mitarbeitenden

Die Gemeinde ist mein Zuhause. Ich bemühe mich um enge und vertrauensvolle Kontakte zu Mitgliedern sowie Mitarbeitenden. Gemeinsam gestalten wir Frauentreffen zu verschiedenen Themen.
Der Beginn des Krieges in der Ukraine markierte eine harte Zeit. Unsere Gemeinde war rund um die Uhr erreichbar. Viele Flüchtende fanden zunächst bei uns eine Unterkunft. Sie sind Mitglieder unserer Gemeinde geworden. Darüber hinaus engagiere ich mich ehrenamtlich bei dem Projekt »Mischpacha« des Zentralrats der Juden in Deutschland. So konnte ich mit Eltern in Kontakt treten und vielen dabei helfen, das Anmeldeformular für den Gemeindebeitritt auszufüllen.

Zwar habe ich das Erste Staatsexamen in Mathematik, arbeite aber in unserer Religionsschule, einer Bildungseinrichtung der IRGW, wo ich Hebräisch und Religion unterrichte. Weil die Unterrichtsinhalte durch den Bildungsplan des Landes Baden-Württemberg bestimmt werden, können Abiturprüfungen auch im Fach Jüdische Religion abgelegt werden.

Es ist wichtig, dass die jungen Menschen nach dem Abitur der Gemeinde verbunden bleiben. Um meinen Mann in der Gemeindearbeit optimal unterstützen zu können, habe ich am Straus-Amiel-Institut in Israel im Frauenprogramm studiert. Im Mittelpunkt standen dabei Themen wie interkulturelle Anpassung, die Rolle der Rebbetzin in der Gemeindearbeit oder jüdische Diaspora und Rhetorik.

Der Schabbat ist ein Geschenk für alle

Gerne laden wir Studierende zum Schabbat ein. Zuerst feiern wir gemeinsam den Gʼttesdienst, dann gibt es einen Kiddusch, anschließend werden Brettspiele ausgepackt. Der Schabbat ist ein Geschenk für alle. Ihn einzuhalten, ist gar nicht mal so schwer. Einfach das Handy ausschalten, dann hat man seine Ruhe – schließlich braucht die Seele einmal in der Woche eine Ruhephase. Was mich wirklich begeistert, ist die Tatsache, dass die junge Generation in Deutschland bleibt. Früher gingen viele junge Leute zum Studium oder zur Ausbildung ins Ausland und kehrten nicht zurück. Heute sagen sie ganz klar: »Wir bleiben. Wir wollen jüdisches Leben in Deutschland leben.« Eine Zukunft hierzulande ist für sie selbstverständlich.

Die Situation in den jüdischen Gemeinden in Deutschland hat sich nach dem 7. Oktober 2023 zwar verändert. Zunächst war überall viel Angst spürbar. Inzwischen hat sich die Lage ein wenig beruhigt. Man muss irgendwie weiterleben. Ich halte es für falsch, sich zu verstecken. Kurz nach dem schrecklichen Terroranschlag der Hamas reisten Mitglieder der Orthodoxen Rabbinerkonferenz (ORD) zu einem Solidaritätsbesuch nach Israel. Anschließend berichtete mein Mann in der Gemeinde von seinen Eindrücken.

Die Gemeinde macht weiter – das ist unser Motto. Unser jüngster Empfang im Weißen Saal des Neuen Schlosses war wieder sehr gut besucht, auch von Nichtjuden. Es gab viele angeregte Gespräche und geistigen Austausch. Historisch gesehen gab es den Tempel in Jerusalem. Er wurde zerstört. Bis er wiederaufgebaut wird, ist die Gemeinde unser Herz.

Aufgezeichnet von Brigitte Jähnigen

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