Interview

»Ich werde berichten bis zum Schluss«

Coco Schumann Foto: imago

Herr Schumann, der heutige Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. Welche Bedeutung hat der 27. Januar für Sie?
Es ist gut, dass es diesen Gedenktag gibt. Er erinnert Deutschland daran, was passieren kann, wenn Hass, Neid uns dumpfe Gewalt an die Stelle von Menschlichkeit treten. Ich persönlich aber brauche keinen Holocaust-Gedenktag. Seit 1945 gab es nicht einen Tag in meinem Leben, an dem ich nicht an unsere im KZ Auschwitz oder anderswo ermordeten Leute gedacht habe.

Ist der 27. Januar für Sie also ein Tag wie jeder andere?
(Überlegt lange) Wahrscheinlich denke ich am 27. Januar noch mehr an damals als sonst. Als einer der letzten Zeitzeugen werde ich vor dem Gedenktag ja immer von unzähligen Interviewanfragen überrannt. Mit fast 90 Jahren ist das alles sehr anstrengend und nur schwer zu schaffen. Da müssen dann weniger wichtige Sachen wie meine Steuererklärung oft warten.

Warum ist es Ihnen dennoch wichtig, sich als Zeitzeuge zu engagieren?
Das habe ich mich früher selbst auch gefragt. Über mein Schicksal habe ich lange Zeit nicht gesprochen. Irgendwann begriff ich: Wer soll vom Holocaust berichten, wenn nicht wir Überlebende? Seitdem habe ich mir geschworen, dass ich berichten werde bis zum Schluss. Damit so etwas nicht noch einmal passiert, darf nichts in Vergessenheit geraten.

Manche Kritiker sagen, der Holocaust-Gedenktag sei ebenso wohlfeil wie folgenlos. Wie bewerten Sie diese Einschätzung?
Das ist alles Blabla von Wichtigtuern. Was wäre denn die Alternative? Etwa kein Gedenktag? Ich kann nichts Schlechtes darin sehen, wenn wir Zeitzeugen von unseren Erfahrungen berichten. Wir werden schließlich nicht jünger.

Wie sollte der Schoa-Opfer gedacht werden, damit nichts in Vergessenheit gerät?
Es ist schon fast alles zur NS-Zeit geschrieben worden. Es gibt Tausende Überlebendenberichte, die vom Alltag während der Schoa erzählen. Durch meine Autobiografie Der Ghetto-Swinger zum Beispiel wird das Abstrakte konkret – auch wenn sich natürlich keiner zu 100 Prozent die Wirklichkeit unseres Lebens damals vorstellen kann. Wer den Holocaust begreifen will, muss die einzelnen Lebensgeschichten der Opfer und Täter studieren. Das Einzelne ergibt das Ganze, und das Ganze ergibt sich aus dem Einzelnen.

Mit dem Musiker sprach Philipp Peyman Engel.

Heinz »Coco« Schumann wird 1924 in Berlin geboren. Mit 13 Jahren entdeckt er den Swing für sich. Bis 1943 gelingt es ihm, der Deportation durch die Nationalsozialisten zu entgehen. Nach seiner Verhaftung wird er zuerst nach Theresienstadt, dann nach Auschwitz und Dachau verschleppt. In Theresienstadt wird er Mitglied der Jazz-Combo »Ghetto-Swingers«. In Auschwitz spielt er zur Unterhaltung der Lagerältesten und SS um sein Leben, in Dachau erlebt Schumann mit letzter Kraft den Abgesang auf das NS-Regime. Danach treibt es den Entwurzelten durch die Welt, die ihm einzig verbliebene Heimat ist der Jazz und der Swing. Heute lebt Coco Schumann wieder in Berlin.

Feiertage

Tradition im Paket

Das Familienreferat des Zentralrats der Juden verschickt die neuen Mischpacha-Boxen mit allerhand Wissenswertem rund um Rosch Haschana und Sukkot

von Helmut Kuhn  12.09.2025

Interview

»Berlin ist zu meiner Realität geworden«

Die Filmemacherin Shoshana Simons über ihre Arbeit, das Schtetl und die Jüdische Kunstschule

von Pascal Beck  11.09.2025

München

Ein Fundament der Gemeinde

Die Restaurierung der Synagoge an der Reichenbachstraße ist abgeschlossen. In den Erinnerungen der Mitglieder hat das Haus einen besonderen Platz

von Luis Gruhler  11.09.2025

Berlin

Soziale Medien: »TikTok-Intifada« und andere Probleme

Denkfabrik Schalom Aleikum beschäftigt sich auf einer Fachtagung mit Hass im Netz: »Digitale Brücken, digitale Brüche: Dialog in Krisenzeiten«

 11.09.2025

Dialog

Brücken statt Brüche

Eine neue große Tagung der Denkfabrik Schalom Aleikum widmet sich der digitalen Kommunikation in Krisenzeiten

 11.09.2025

Dialog

Freunde wie Berge

Juden und Kurden verbindet eine jahrtausendealte Freundschaft. Um ein Zeichen der Gemeinsamkeit zu senden und sich des gegenseitigen Rückhalts zu versichern, kamen sie nun auf Einladung der WerteInitiative in Berlin zusammen

von Katrin Richter  10.09.2025

Literatur

»Es wird viel gelacht bei uns«

Der Historiker Philipp Lenhard und die Schriftstellerin Dana von Suffrin über den von ihnen gegründeten Jüdischen Buchklub, vergessene Klassiker und neue Impulse

von Luis Gruhler  09.09.2025

Ausstellung

Lesen, Schreiben, Sehen, Handeln, Überleben

Im Literaturhaus München wird das Leben der amerikanischen Denkerin und Publizistin Susan Sontag gezeigt

von Ellen Presser  09.09.2025

München

Spur der heiligen Steine

Es war ein Sensationsfund: Bei Baumaßnahmen am Isarwehr wurden Überreste der früheren Hauptsynagoge entdeckt. Der Schatz wird nun vom Jüdischen Museum erforscht

von Michael Schleicher  07.09.2025