Porträt der Woche

»Ich mag historische Romane«

»Nur zu Hause herumzusitzen, ist nichts für mich«: Fanya Uzhva (67) Foto: Jörn Neumann

Porträt der Woche

»Ich mag historische Romane«

Fanya Uzhva ist Rentnerin und hilft ehrenamtlich in einer Bibliothek

von Matilda Jordanova-Duda  12.06.2012 06:46 Uhr

Ende des Monats treffen sich alle aus unserer ukrainischen Heimatstadt Kirovograd in Dortmund. Das passiert nicht jedes Jahr, und ich hoffe, dass diesmal alle kommen. Es gibt nämlich zwei verschiedene Kirovograder Klubs, und die beiden Organisatoren sind sich nicht grün. In NRW leben recht viele aus unserer Stadt, aber hier in Köln sind es nur zwei, drei Familien. Damals in der Heimat haben sich unsere Wege nie gekreuzt, hier ist es kaum anders.

Aber das macht nichts, denn in der Gemeinde habe ich viele interessante Bekanntschaften. In diesem Jahr wurden die Ehrenamtlichen zu einem Seminar nach Bad Kissingen eingeladen. Auf dieser Reise habe ich wieder bewundernswerte, sehr talentierte Menschen kennengelernt.

Auswanderung Von Beruf bin ich Maschinenbau-Ingenieurin und habe als Konstrukteurin von Radio- und Fernsehgeräten in einer Fabrik gearbeitet. Als es mit der Produktion bergab ging, bin ich früher in Rente gegangen. Doch etwas muss der Mensch den lieben langen Tag tun. So half ich ein paar Jahre vor der Auswanderung in der Bibliothek einer jüdischen Gemeinde.

Daher hatte ich schon die Erfahrung, als unser Gemeindezentrum hier im Stadtteil Chorweiler vor etwa drei Jahren öffnete und ehrenamtliche Helfer für die neue Bücherei gesucht wurden. Ich habe mit Freude zugesagt, denn zu Hause herumzusitzen, ist nichts für mich.

Meistens sind es Rentner, die sich bei uns Lektüre holen. In unserem Stadtteil unterhält ein Verein eine sehr gute russischsprachige Bücherei. Aber man muss eine Treppe in den Keller hinabsteigen. Für manche ist das wegen des Alters nicht mehr zu schaffen. Deshalb kommen sie zu uns, hier ist es ebenerdig. Wir haben eine gute Auswahl an Büchern auf Russisch und Deutsch: Weltliteratur, Krimis, Liebesromane, Kinderbücher, Memoiren, Judaica. Ein Teil der Bücher hat uns die Zentralbibliothek der Gemeinde geschenkt, sehr viel haben Leser gespendet.

schmökern Frauen bevorzugen Krimis und Liebesschmöker, die Männer Memoiren und russische sowie ausländische Klassiker. Ich persönlich mag historische Romane, die sich mit der Zeit von 1800 bis heute beschäftigen. Einmal im Quartal darf ich Neues kaufen. Dafür stellt mir die Gemeinde 300 Euro zur Verfügung. Manchmal sagen die Leute: »Dieser oder jener Autor hat wieder etwas veröffentlicht, können wir es haben?« Zuletzt habe ich die neuen Krimis von Tatjana Ustinova geholt. Viele ihrer Bücher sind schon verfilmt worden. Die Leute mögen sie.

Eigentlich sollte ich nur dienstags für drei Stunden in der Bibliothek sein. Aber wenn es etwas zu tun gibt, komme ich jeden Tag. Und es gibt genug zu tun! Drei Stunden pro Woche reichen nicht aus. Da viele wissen, dass ich zweimal wöchentlich im Gemeindezentrum Aerobic mache, nutzen sie dann die Gelegenheit, sich ein paar Bücher zu holen. Zu Hause mache ich am Computer weiter: Ich suche nach Literatur und pflege den Katalog.

Übers Internet halte ich auch den Kontakt zu meiner Familie. Unser Sohn und unsere Tochter sind schon vor uns ausgewandert – nach Israel. Mein Mann und ich, wir vertragen das Klima dort nicht, deshalb leben wir seit 2004 in Deutschland. Mit den Kindern und Enkeln rede ich per Skype. Vor Kurzem habe ich erfahren, dass mein Sohn demnächst in die Ukraine fliegt, zur Hochzeit unseres Neffen. Da habe ich mich gefreut! Wir können nicht hin, aber unsere Familie wird bei der Hochzeit vertreten sein.

Viel Geld haben wir nicht zur Verfügung, aber mein Mann und ich sind beide sehr gern unterwegs. Seit zwei Jahren sparen wir für eine Reise nach Spanien. Im Sommer ist es so weit: Zwei bis drei Tage liegen wir am Strand, dann schauen wir uns Barcelona, Montserrat und Girona an. Wir besuchen natürlich auch gern unsere Kinder in Israel. Auch hier in der Umgebung, bis nach Belgien und in die Niederlande sind wir schon viel herumgekommen.

Nachrichten Nicht nur jetzt während der Fußball-EM, sondern immer suchen mein Mann und ich im Internet nach Informationen über die Ukraine. Die politischen Ereignisse dort sind beunruhigend, sodass wir sehr oft online sind und viele Nachrichtensendungen gucken. Mein Mann hat 35 Jahre in einem Fernsehstudio gearbeitet. Er ruft ständig die Webseite des Senders auf und telefoniert dann mit seinen ehemaligen Kollegen: »Ich habe dies und das gesehen, das war nicht gut gemacht!«

Das Internet ist unser Tor zur Welt: Über das soziale Netzwerk Odnoklassniki.ru habe ich meine ehemaligen Klassenkameraden wiedergefunden. Viele wohnen wie ich in Deutschland, andere in Italien und Kanada. Sogar in Neuseeland gibt es welche. Die ganze Welt ist in meinem Computer. Mit einigen unterhalte ich mich per Skype, manchen schreibe ich Mails. Wir halten den Kontakt, aber ein Klassentreffen zu organisieren, wäre zu kompliziert.

Diejenigen, die in der Ukraine geblieben sind, sehe ich jedes Mal, wenn ich dort bin. Zuerst sind nur die Frauen unter sich; mit den Männern treffen wir uns an anderen Tagen. Unser »Mädchentreff« ist uns heilig, wie mein Mann sagt.

Treffen Dank ZWAR (Zwischen Arbeit und Ruhestand) habe ich auch deutsche Freunde. ZWAR ist eine gemischte Gruppe Russischsprachiger und Einheimischer, die von der Caritas organisiert wird. Ich bin einige Jahre lang regelmäßig zu den Treffen gegangen. Wir haben uns nur auf Deutsch unterhalten. Wer nicht alles ausdrücken konnte, dem sprang ein Dolmetscher bei. Wenn in Köln Karneval war, haben wir über die russische Masleniza, die Butterwoche, erzählt. Wir reden auch über uns selbst, unsere Heimatstädte und zeigen Videos, Fotos und Dias.

Leider besuche ich die Treffen nicht mehr so oft. Irgendetwas kommt immer dazwischen: Urlaub, Krankheit, Termine … Die Gruppe trifft sich allerdings immer noch, nun ohne Projektleitung und aus eigener Initiative. Man stellt uns den Raum zur Verfügung, das ist alles.

Als ich nach Deutschland kam, konnte ich überhaupt kein Deutsch. Mir war aber klar, dass ich es unbedingt lernen muss, wenn ich hier leben will. Ich leide am »Syndrom der Klassenbesten«: Wenn ich etwas können muss, dann ausgezeichnet. So bin ich eben. Außerdem liegen mir Fremdsprachen, sodass ich nach dem sechsmonatigen Deutschkurs selbstständig weitergemacht habe.

ämter Das Leben hier fällt mir leicht, ich bin vielen hilfsbereiten Menschen begegnet. Ein Beispiel: Meine Schwester und ich sind zur gleichen Zeit nach Deutschland gekommen. Wir haben hier viele Verwandte. Während der ersten Zeit haben sie uns auf Ämter begleitet. Später ging nur einer für beide Familien mit, da hieß es: »Du verstehst schon genug, geh allein! Wenn du nicht zurechtkommst, ruf nach mir, ich bin in dem und dem Zimmer.«

Deshalb musste ich mich sorgfältig auf die Gespräche mit den Sachbearbeitern vorbereiten und habe mir die Begriffe vorher aufgeschrieben. Wenn ich während des Gesprächs etwas nicht verstand, schlug ich im Wörterbuch nach. Manche Behördenmitarbeiter gingen dann zum Russisch über. Sie sagten: »Wir merken, dass Sie sich Mühe geben, Deutsch zu sprechen. Wir können selbst nur schlecht Russisch, aber für die Grundbegriffe reicht es.«

Und so haben wir uns auf Deutsch und Russisch verständigt. Wirklich, das glaubt mir keiner: Ich hatte immer das Glück, nette Menschen zu treffen.

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