Porträt der Woche

»Ich bin stolz auf mein Team«

»Als Kind begleitete ich meine Mutter oft in die Pestalozzistraße – sie liebte die Stimme von Estrongo Nachama«: Sigrid Wolff (65) aus Berlin Foto: Uwe Steinert

Porträt der Woche

»Ich bin stolz auf mein Team«

Sigrid Wolff ist Sozialmanagerin und leitet das jüdische Seniorenheim in Berlin

von Gerhard Haase-Hindenberg  10.05.2020 13:37 Uhr

In meinen 30 Dienstjahren als Leiterin des Seniorenzentrums musste ich manche Herausforderung bestehen, die aktuelle hat einen Namen: Corona. Was die Hygienevorschriften wie das Waschen und Desinfizieren der Hände betrifft, so galt das bei unseren Mitarbeitern schon immer. Mittlerweile achten wir aber auch darauf, dass die Abstandsregeln eingehalten werden, und die Pflegekräfte tragen nun Masken und Handschuhe.

Hierfür muss ich ein privates Netzwerk bemühen, denn die Preise sind ja explodiert. Eine Packung mit 50 Atemschutzmasken, für die ich früher 2,50 Euro bezahlt habe, wird mir nun für 40 Euro angeboten. Zum Glück hat mein Mann einen Neffen, der seit Jahren mit chinesischen Geschäftspartnern arbeitet, und wenn der Zoll in beiden Ländern mitspielt, bekommen wir die Masken von dort als Spende.

BARMIZWA Berlin ist der Ort, an dem ich geboren wurde, und meine beiden Eltern auch. Die Familie väterlicherseits kam aus Polen, aber mein Vater war immer stolz, dass er in Berlin zur Welt kam und seine Barmizwa am Fraenkelufer hatte. Zu Beginn des Krieges ist seine Familie nach Polen ausgewiesen worden.

Seine Eltern haben ihn in Richtung Osten geschickt, und es hat ihn bis nach Sibirien verschlagen, und später nach Usbekistan, wo damals viele Juden lebten. Er hat eine polnische Frau geheiratet und eine Familie gegründet, mit der er nach Palästina auswanderte. Bald aber kam das Heimweh, und er zog mit seiner Familie nach Berlin.

Hier traf er seine Schwester wieder, die als Zwangsarbeiterin bei Siemens überlebt hatte. Die Frau meines Vaters wollte aber auf gar keinen Fall hierbleiben. Sie ging mit meinen zwei Halbschwestern zurück nach Israel, und mein Vater hat in Berlin dann eine neue Familie gegründet. Deren ältestes von drei Kindern bin ich.

Im Moment heißt der gemeinsame Feind Corona.

Als ich aufwuchs, gab es in Berlin noch keine jüdischen Schulen. Zum Religionsunterricht bin ich ins Gemeindehaus in die Fasanenstraße gefahren. Die meisten meiner Freunde waren jüdisch. Wir waren eine Clique, viele von ihnen treffe ich heute noch bei Aktivitäten in der Gemeinde. Eine Freundin erzählte mir damals von einem jungen Mann, der – wie sie meinte – genau mein Typ sei. Wichtig war mir, dass er jüdisch war, und das traf schon einmal zu. Wir trafen uns dann mit ihm und seiner Clique. Sie hatte mit ihrer Einschätzung recht – Garry ist bis heute mein Mann.

KITA Mein Vater hatte eine Kneipe in Kreuzberg in der Nähe der Synagoge Fraenkelufer, wohin er regelmäßig ging. Meine Mutter aber liebte die Stimme von Kantor Estrongo Nachama, weshalb ich sie oft in die Pestalozzistraße begleitete.

Nach der Mittleren Reife besuchte ich eine Fachschule für Sozialpädagogik, wo ich zur Erzieherin ausgebildet wurde. Eigentlich wollte ich Vorschullehrerin werden, aber während meiner Ausbildung hatte man die Studiengänge verändert, denn es gab damals zu viele Vorschullehrer und zu wenige Erzieher. Nach dem Staatsexamen machte ich zunächst mein Anerkennungsjahr in der jüdischen Kita in der Delbrückstraße, wo ich schließlich auch übernommen wurde.

Nach der Geburt meiner ersten Tochter hatte ich einen Aufhebungsvertrag gemacht, und nachdem meine zweite Tochter zur Welt gekommen war, fing ich nach Jahren der Auszeit wieder in der Kita an. Im Jahr 1990 war man auf der Suche nach einer neuen Leitung für das Seniorenzentrum. Der damalige Gemeindevorsitzende Heinz Galinski sagte zu mir: »Wer mit kleinen Kindern spielen kann, wird sich auch mit Senioren nicht schwertun.«

AUFGABE Ich habe lange überlegt, denn eigentlich wollte ich nicht mit alten Menschen arbeiten, sondern weiterhin lieber mit Kindern. Dennoch haben mein Mann und ich uns das Seniorenzentrum angesehen. Die Leitung war nämlich eine sogenannte Ehepaarstellung.

Garry hatte jahrelang einen Jeansladen in Kreuzberg und konnte sich beruflich durchaus auch einmal etwas anderes vorstellen. Beim Besuch im Seniorenheim kamen wir mit den Bewohnern ins Gespräch – und durch diese persönlichen Begegnungen haben wir schließlich zugesagt, diese Aufgabe zu übernehmen.

Ich erinnere mich, dass ich zu meiner Mutter gesagt habe: »Ich schäme mich, dass ich so lange überlegt habe.« Es ist so eine tolle Aufgabe, alten Menschen zuzuhören, wenngleich es zunächst schon eine Umstellung von der Kita zum Seniorenzentrum war.

Wenn ich Kindern etwas beibrachte, dann konnten sie das irgendwann. Hier aber habe ich Menschen vor mir, die einmal unheimlich viel konnten, nach und nach aber ihre Kompetenzen verlieren. Das macht diese Menschen traurig – und mich auch.

ÜBERLEBENDE Im Sommer 1990 fingen wir also hier im Seniorenzentrum an. Parallel machten mein Mann und ich nacheinander die Ausbildung zum Sozialmanager. Es war gut, dass wir gemeinsam hier waren, denn eigentlich ist die gesamte Familie involviert.

Man hat hier keinen Job, in dem man von acht bis 16 Uhr arbeitet. Irgendwer hat immer ein Problem, und deshalb gibt es bei mir auch keine Sprechstunden. Wer etwas möchte, der kommt zu mir. Denn die Zeit, die ich brauchen würde, um jemandem zu erklären, dass ich jetzt keine Sprechstunde habe, würde sehr viel länger dauern als die Zeit, die ich mir nehme, um ein Problem zu lösen.

Mein Mann ist inzwischen verrentet, aber es ist mittlerweile auch keine Ehepaarstellung mehr. Vieles wurde inzwischen rationalisiert und standarisiert. Es wird sich zeigen, ob das nun besser ist.

Vor 30 Jahren wohnten hier fast ausschließlich Schoa-Überlebende. Die Gespräche mit ihnen habe ich immer als ausgesprochen bereichernd empfunden. Mein Vater nämlich hat uns Kindern sehr wenig erzählt, und auch nur wenige der Bewohner hier haben mit ihren Kindern über die Zeit der Schoa gesprochen.

Später kamen viele der Eltern von meinen Jugendfreunden ins Seniorenzentrum, die mich schon als Kind kannten.

Mir gegenüber aber waren sie sehr viel offener, denn ich war eine neutrale Person. Es war für diese Leute unheimlich wichtig, das haben wir immer wieder gespürt, irgendjemandem ihre Leidensgeschichte zu erzählen.

Im Laufe der Jahre hatten wir dann im Haus oft Jugendliche, die durch »Aktion Sühnezeichen« hierherkamen. Mit ihnen haben wir Erzählnachmittage organisiert. Im Vorfeld hatten wir mit einigen Bewohnern darüber gesprochen, von denen wir wussten, dass sie darüber reden können und das auch wollen. Den alten Leuten hat das sehr gutgetan, denn das Interesse dieser nichtjüdischen Jugendlichen hat ihnen wieder Hoffnung gegeben.

Später kamen viele der Eltern von meinen Jugendfreunden ins Seniorenzentrum, die mich schon als Kind kannten. Sie sagten dann manchmal: »Früher haben wir auf dich aufgepasst, jetzt ist es umgekehrt.« Diese Bewohner kamen eben aus alteingesessenen jüdischen Familien, die mich mein Leben lang kannten.

SPRACHBARRIEREN Mitte der 90er-Jahre brachte dann der Zuzug von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion einige Veränderungen hier im Seniorenzentrum mit sich. Diese erste Generation damals hat noch gekocht und gebacken. Sie hat uns verschiedene Speisen gebracht: Piroschki, Süßes und Salziges.

Die Menschen kannten noch jüdisches Leben und sprachen meist Jiddisch. Die nächste Welle kam weniger wegen der Jüdischkeit, sondern wegen wirtschaftlicher Interessen. Plötzlich herrschte ein überzogenes Anspruchsdenken vor, dem man erst einmal entgegentreten musste. Das aber hat sich inzwischen wieder gelegt.

Viele unserer Bewohner haben gelernt, mit WhatsApp umzugehen, und unser Vorbeter schreibt ihnen, wann das Schma Israel kommt.

Wir sind bemüht, die Jüdischkeit zu bewahren, aber es kommen viele, die sich für die Religion ihrer Vorfahren nicht sonderlich interessieren. Inzwischen sind zwei Drittel unserer Bewohner aus der ehemaligen Sowjetunion. Das führt manchmal zu Problemen mit den nichtrussischen Bewohnern, da offenbar die Toleranzschwelle im Alter abnimmt.

Eigentlich kennen sie einander gar nicht, und aufgrund der Sprachbarriere können sie sich auch nicht kennenlernen. Im Moment sind diese Probleme allerdings geringer. Denn der gemeinsame Feind heißt Corona, und gegen den kämpfen wir alle gemeinsam.

AMIDA So muss sich auch die Jüdischkeit in Zeiten von Corona eigene Wege suchen. Viele unserer Bewohner haben gelernt, mit WhatsApp umzugehen, und unser Vorbeter Porat Jacobsohn schreibt ihnen, wann das Schma Israel kommt, und man kann das dann auch abspielen lassen. Oder sie werden aufgefordert, die Amida zu lesen.

Ich bin stolz darauf, wie alle meine Mitarbeiter all diese Herausforderungen Tag für Tag gut meistern, und ich bin sicher, dass wir unsere Einrichtung gemeinsam gut durch diese Krise führen.

Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg

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