Stuttgart

Fürsorgliche Solidarität

Helfen, wo sie können: Aleksander und Oron Foto: Dagmar Bluthardt

Stuttgart

Fürsorgliche Solidarität

Einkaufen, reden, Zeit haben – Studenten helfen älteren Menschen in Corona-Zeiten

von Heidi Hechtel  23.08.2020 08:30 Uhr

Maske muss sein. Und der Abstand, in dem die Stühle für die Besucher aufgestellt werden, selbstverständlich auch. Aber sonst hat Janna Agarunova keine Berührungsängste mehr.

Die 78-Jährige lebt in der Senioreneinrichtung direkt neben dem Gemeindezentrum der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW) in Stuttgart. »Nein, ich habe keine Angst«, sagt sie mit lebensfrohem Optimismus und bittet Aleksander Tanunin und Oron Haim herzlich herein in ihre schöne Wohnung. »Das sind sehr nette junge Männer«, lobt sie begeistert ihre spontanen und offenbar hochwillkommenen Gäste.

»Ich bin überwältigt von dieser fürsorglichen Solidarität der jungen Leute.«

Dagmar Bluthardt

Die beiden, 22 und 25 Jahre alt, lächeln bescheiden, was hinter den Masken kaum auszumachen ist. Dabei sorgen sie mit der Coronahilfe seit Monaten unermüdlich für gefüllte Kühl- und Vorratsschränke in den Haushalten der älteren Gemeindemitglieder.

Ein Besuch wie dieser in den vier Wänden ihrer Auftraggeber und Schützlinge ist für sie die absolute Ausnahme. Ihr Einsatz endet für gewöhnlich spätestens an der Wohnungstür, dem sicheren Schild gegen Ansteckungsgefahr.

Solidarität »Ich bin überwältigt von dieser fürsorglichen Solidarität der jungen Leute«, sagt Dagmar Bluthardt. Als Mitte März die Pandemie alle Kontakte und das gewohnte Miteinander unmöglich machte, hatte sie als Leiterin des IRGW-Sozialdienstes die entscheidende Frage aufgeworfen: »Wie versorgen wir unsere älteren und hilflosen Menschen? Die Risikogruppe, die sich auf keinen Fall den Gefahren der Ansteckung aussetzen darf?«

Denn auch Bikkur Cholim, die Krankenhilfe, war mit dem Lockdown ausgebremst und zur Untätigkeit verdammt worden.

Jetzt war Füreinander statt Miteinander angesagt. Dagmar Bluthardt hatte die rettende Idee: »Man kann ja mal bei den jungen Leuten von der Jüdischen Studierendenunion Württemberg (JSUW) fragen.« Zeit, meinte sie, hätten sie ja, weil die Universitäten und Hochschulen ebenfalls den Betrieb eingestellt hatten.

Die promovierte Sozial- und Erziehungswissenschaftlerin mit der Gabe, pragmatische Lösungen zu finden, kann auch Menschen gewinnen und motivieren. Denn Oron Haim und Aleksander Tanunin, von ihr angesprochen, hatten nicht nur Zeit, sondern auch sofort die Bereitschaft zu helfen. Ohne zu zögern.

Auch Bikkur Cholim, die Krankenhilfe, war mit dem Lockdown ausgebremst.

Mit Herz und Verstand. Sprich: fürsorglich, solidarisch und empathisch. Und, nicht minder wichtig, fähig, die Hilfe sofort bestens zu organisieren, zu strukturieren und weitere Helfer zu rekrutieren. »Innerhalb kürzester Zeit waren mehr als 30 ehrenamtliche Helfer gefunden, Netzwerk und Struktur organisiert und die Aktion in die Tat umgesetzt«, staunt Dagmar Bluthardt noch immer.

Jugendzentrum Sie hätte keine Besseren finden können, denn beide sind sozusagen vom Fach: Aleksander Tanunin ist im Jugendzentrum der Gemeinde aktiv, hat bei der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) eine Betreuerausbildung absolviert und studiert jetzt Bauingenieurwesen.

Von morgens um acht bis spätabends klingelt das Telefon.

Mit Oron Haim, der das Jugendzentrum geleitet hat und auf dualem Weg Sozialwissenschaft mit einem Praktikum in der Gemeinde studiert, hat er den Vorsitz in der Studierendenunion inne. »Wir haben sofort Regeln aufgestellt«, sagt Oron Haim: »Keine Menschen berühren. Abstand halten. Maske tragen. Bei Symptomen einer Erkrankung sofort ärztliche Hilfsmaßnahmen in die Wege leiten.«

Dazu wurde eine strategische Logistik entwickelt: »Wir haben Stuttgart nach den Wohnorten der Helfer in Distrikte eingeteilt, damit nicht alle quer durch die Stadt von Nord nach Süd oder Ost nach West fahren müssen.« Stichwort Nachbarschaftshilfe.

Kaum war das Angebot der Coronahilfe im Gemeindeblatt zu Pessach und den sozialen Medien mit E-Mail-Adresse und Telefonnummer publik gemacht, klingelte das Telefon. »Unentwegt. Von acht Uhr morgens bis in die Nacht«, sagt Aleksander.

Auch spezielle Wünsche werden erfüllt.

»Die meisten Anrufe waren auf Russisch.« Ganz klar, von jenen älteren Menschen, die als Zuwanderer in den 90er-Jahren kamen und mit der deutschen Sprache nicht mehr vertraut wurden. Für Aleksander kein Problem. Dann legte die schnelle Truppe los.

Optik Damit auch die Optik stimmt, sogar in schicker Dienstkleidung: dunkelgraue T-Shirts mit einem kunstvoll entworfenen Logo mit den Buchstaben JSUW, Davidstern und Menora. Von den Pessachpaketen der Gemeinde im April mit Mazze, Mazzemehl, Wein und Gefilte Fisch auf Bestellung bis zu den oft erwähnten Großpackungen von Toilettenpapier gibt es nichts, was die Helfer nicht liefern: Medikamente, Lebensmittel, Getränke.

»Auch spezielle Wünsche werden erfüllt«, verraten die beiden. Anna zum Beispiel, eine 73-Jährige aus Neugereut, ruft regelmäßig an und will Bio-Produkte aus einem ganz bestimmten Drogeriemarkt. Wird gemacht. Zur genauen Abstimmung der Bestellung fahren die Helfer manchmal vor der Besorgung schon zum Auftraggeber, erhalten das Geld ausgehändigt, andere zahlen erst bei Lieferung. Natürlich spürten sie auch manchmal Skepsis und ein wenig Misstrauen.

Gespür »Das verstehen wir bei alten Menschen und nehmen es nicht persönlich«, versichert Oron Haim. »Die beiden haben ein besonderes Gespür für die älteren Menschen«, stellt Dagmar Bluthardt fest.

Das ist wohl auch manchmal nötig, etwa wenn die Gespräche über die Bestellungen hinausgehen, Probleme wie Geldsorgen angesprochen oder Klagen über antisemitische und rassistische Erfahrungen geführt werden. »Das leiten wir sofort an geschultes Personal weiter«, sagt Aleksander Tanunin.

Ablehnen müssen sie auch die Bitte von Anrufern, sie ganz schnell zum Arzt oder sonst wohin zu fahren. »Taxi und Transportdienste sind tabu«, bedauert Dagmar Bluthardt. Wäre ja ein Risiko.

Alltag Oron Haim freut sich besonders über den Kontakt mit der älteren Generation, wenn auch auf Distanz und unter bedauerlichen Vorzeichen. »Es gibt zu wenige Begegnungen der Generationen im Alltag des Gemeindelebens«, sagt er.

Fürsorge und Empathie stehen bei dem Angebot im Mittelpunkt.

Ein Besuch wie bei Janna Agarunova, die so viel zu erzählen hat – über ihre Heimatstadt Baku, über ihre Mutter, die dort an der Oper gearbeitet hat, oder ihren Sohn, der Schauspieler und Regisseur ist –, wird wohl erst einmal die Ausnahme bleiben.

Zwar sind die strengen Vorsichtsregeln gegen Corona etwas gelockert und die Versorgungsaufträge alter Menschen weniger geworden. Aber die Infektionen steigen wieder beängstigend an, und die Gefahr einer zweiten Welle muss ernst genommen werden. »Dann sind wir alle sofort wieder voll im Einsatz«, versprechen Aleksander und Oron. Fix, fürsorglich und solidarisch.

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