Musik

Flügel-Geschichten

Der Kaffee interessierte sie nicht, auch nicht der Kuchen – sie wollten lieber Noten »verschlingen« und blieben im Arbeitszimmer, aus dem ununterbrochen Klavier und Gesang erklang. So sah ein typischer Sonntagnachmittag aus. Kantor Estrongo Nachama (1918–2000) besuchte mit seiner Frau Lilli und seinem Sohn Andreas öfter Rabbiner Martin Riesenburger (1896–1965), der im Verwaltungshaus auf dem Jüdischen Friedhof Weißensee lebte.

Während dessen Frau Klara Kaffee kochte, begleitete der Konzertpianist und Rabbiner Riesenburger den Kantor an seinem Flügel – so erzählt es Andreas Nachama. »Seine Frau schimpfte immer, wenn es ihr zu lange dauerte.« Doch das hat die beiden Musiker nicht abgehalten, weiter jüdische und hebräische Lieder zu singen und zu spielen. Dank seiner Frau, die als Nichtjüdin galt, überlebte Riesenburger die Schoa.

Rettung von Torarollen und Gebetbüchern

Ab Juni 1943 war er auf dem Friedhof der Jüdischen Gemeinde zu Berlin als Rabbiner tätig, konnte Flüchtlingen helfen, heimlich Gottesdienste abhalten, für ein angemessenes Begräbnis verstorbener Juden sorgen sowie bei der Rettung von Torarollen und Gebetbüchern mitwirken. Und wahrscheinlich hat schon damals sein Flügel in dem Haus gestanden.

Estrongo Nachama kam 1918 in Thessaloniki zur Welt. Im Frühjahr 1943 wurden er, seine Eltern, seine Schwestern und seine Verlobte Regina nach Auschwitz deportiert und – bis auf ihn – alle ermordet. Nachamas sängerisches Talent fiel den Wachmannschaften auf. Er war später davon überzeugt, dass er allein dank seines Gesangs nicht nur Auschwitz, sondern auch den Todesmarsch der Gefangenen des Konzentrationslagers Sachsenhausen überlebt hatte. In Berlin traf er nach der Schoa Riesenburger.

Bis 1953 gab es in Berlin nur eine Jüdische Gemeinde, doch Riesenburger drängte darauf, eine eigene in der DDR zu gründen. Mit dem Mauerbau wurden die Gemeinden dann endgültig getrennt. Aber: »Estrongo hatte einen griechischen Pass und konnte relativ einfach von Charlottenburg nach Ost-Berlin fahren«, sagt dessen Sohn Andreas Nachama. Er vermutet, dass Martin Riesenburger seinen Vater im Klavierspielen unterrichtet hat, denn »in Griechenland hat er es definitiv nicht gelernt«. Sie seien beide leidenschaftliche Musiker gewesen. 1965 starb Martin Riesenburger – und hatte verfügt, dass seinen Stutzflügel Estrongo Nachama bekommen solle. So geschah es.

Andreas Nachama erinnert sich daran, dass sein Vater am Flügel neue Stücke einstudierte. »Aber er hat nie öffentlich Klavier gespielt.« Bei einer Generalüberholung wurden später zig Zigarettenkippen in dem Instrument entdeckt – »wahrscheinlich rauchte der Rabbiner heimlich, denn seine Frau hatte es ihm verboten. Theoretisch könnten die aber auch von jemand anderem stammen«. Bei Estrongo Nachama, dem legendären Oberkantor der Berliner Jüdischen Gemeinde, drehte sich alles um die Musik. Notenblätter bildeten Türme in seiner Wohnung, er scharte sich mit anderen Musikern um den Flügel, den oft ein befreundeter Pianist spielte.

Brandt und Mamlok kehrten mit ihren Instrumenten nach Deutschland zurück.

Als Estrongo Nachama starb und seine Wohnung aufgelöst wurde, kam der Flügel zu seiner Frau Lilli. »Da stand er mehr oder weniger als Denkmal an Estrongo, denn weder sie noch ich konnten Klavier spielen. Nur mein jüngerer Sohn setzte sich manchmal daran«, erzählt Andreas Nachama. Doch als Lilli starb, stellte sich wieder die Frage, wo der Flügel stehen und vielleicht auch gespielt werden könnte. »Meine Wohnung geht nicht, sie ist zu klein. Und ich wollte, dass er an einen Ort kommt, an dem er auch gespielt wird.« Erst einmal wurde er in Bad Saarow zwischengelagert.

Von Weißensee, Charlottenburg, Wilmersdorf und Bad Saarow in den Wedding

Irgendwann wurde Andreas Nachama von einem Pfarrer darauf angesprochen, den er von der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit her kannte: Eine evangelische Gemeinde im Wedding würde sich sehr darüber freuen, wenn der Flügel im Gemeindesaal stehen könnte, denn dort werde dringend einer benötigt. So zog das Instrument von Weißensee, Charlottenburg, Wilmersdorf und Bad Saarow in den Wedding. Allerdings wurde der Gemeindesaal renoviert, sodass der Flügel jetzt in der Wohnung des Pfarrers steht.

Seit Kurzem gibt es in Dahlem einen Estrongo-Nachama-Platz sowie in Schöneberg einen Ursula-Mamlok-Park. Und der Baldwin-Flügel der Komponistin Ursula Mamlok (1923–2016), die aus Schöneberg stammt, mit ihrer Familie nach Ecuador floh, dann in die USA ging und Jahrzehnte später nach Berlin zurückkehrte, wurde jüngst im Rathaus Schöneberg eingeweiht – mit einer ihrer ersten Kompositionen, dem »Wüstenritt«, gespielt von einem 13-jährigen Schüler der Leo-Kestenberg-Musikschule.

»Es war eine schöne, würdige Feier«, sagt Simone Ladwig-Winters von der Dauerausstellung Wir waren Nachbarn. Dort gibt es ein Album über Ursula Mamlok. Sie blättert es durch. »Ursula hat damals darauf bestanden, dass ihr Klavier mit nach Ecuador kommt«, sagt die Historikerin. Auf der Überfahrt durfte sie sogar auf dem Flügel im Salon spielen. Aber Ecuador konnte ihr Bedürfnis nach Musik und Ausbildung nicht stillen, weshalb sie sich an der Mannes School of Music in New York bewarb und ein Stipendium erhielt, heißt es in dem Album. In New York fand sie ein Zimmer bei einer älteren Dame, auf deren Flügel sie so viel üben konnte, wie sie mochte.

1947 heiratete Ursula Dwight Mamlok. Zusammen zogen sie nach San Francisco. Da sie noch keinen Hochschulabschluss hatte und sich nicht als »fertige Komponistin« fühlte, kehrten sie nach New York zurück, wo sie schließlich mithilfe eines inzwischen dritten Stipendiums an der Manhattan School of Music ihren Bachelor und 1957 ihren Master of Music erhielt.

»Es ist eine Rückkehr in die Geburtsstadt, aber nicht in die ›Heimat‹«

»Das zeigt auch ihren Willen«, so Ladwig-Winters. Denn sie ließ sich nicht davon abschrecken, dass ihre Kommilitonen deutlich jünger waren. Später unterrichtete sie dort. Nach dem Tod ihres Mannes kehrte sie 2006 nach Berlin zurück. »Es ist eine Rückkehr in die Geburtsstadt, aber nicht in die ›Heimat‹«, betonte sie immer. Denn: »Meine Heimat ist die Musik.«

Nach ihrem Tod stellte sich der Dwight und Ursula Mamlok-Stiftung die Frage, wo ihr Flügel, der mit ihr nach Berlin gekommen war, weitergespielt werden kann. Zuerst wurde er in die Gedenkstätte Sachsenhausen transportiert, wo er ein Schattendasein führte. »Wir hätten ihn gern in der Ausstellung präsentiert und für unsere Veranstaltungen genutzt, aber wir haben einfach keinen Platz«, so Simone Ladwig-Winters.

Aber schließlich ergab es sich, dass die Schöneberger Musikschule Leo Kestenberg Verwendung dafür hatte. Die Musikschule nutzt öfter die Räume im Rathaus. Nach einigen bürokratischen Schwierigkeiten, die gelöst werden konnten, steht er nun in der Brandenburghalle. »Es wäre in ihrem Sinne, dass begabte Schüler auf ihm spielen dürfen.«

Ein Pianist, der aus der Ukraine geflüchtet ist, spielt nun auf dem Flügel.

Es gibt noch einen dritten Flügel, der eine neue Heimat gefunden hat, und zwar in Bielefeld. Weil Rabbiner Henry G. Brandt (1927–2022) da amtierte, steht dort seit einigen Jahren sein brauner Schiedmayer-Flügel in der Synagoge. »Rabiner Brandt hat sich unserer Gemeinde immer eng verbunden gefühlt und wollte für seinen Flügel einen würdigen Ort finden«, sagt Irith Michelsohn, Vorsitzende der örtlichen Kultusgemeinde.

Sheila Brandt, seine Frau, brachte ihn mit in die Ehe. Als das Paar von England nach Deutschland zog, kam der Flügel mit. Nach Brandts Tod wurde er aus seiner Augsburger Wohnung nach Bielefeld transportiert. Nun spielt ein Musikprofessor, der aus der Ukraine geflüchtet ist, regelmäßig auf ihm. »Das hätte dem Rabbiner gefallen.«

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