Tu beAw

Endlich unter der Chuppa

Das Rezept für eine glückliche Ehe? Bevor ihr Mann sich äußern möchte, ahnt Alexandra Goikhman (76) bereits, was er sagen möchte – das fällt dem Paar spontan als Antwort ein: eben, dass sie stets wisse, was er sagen werde. Oft mag Leonid (76) nicht spazieren gehen, dann überredet sie ihn dazu – und nachher ist er dankbar, weil es sie beide fit hält, berichten sie weiter.

»Den Partner so annehmen, wie er ist, und vielleicht störende Kleinigkeiten nicht so wichtig ansehen.« Das sagen Alla und Vladimir Donskoi (beide 50) aus Frankfurt über eine lange, glückliche Beziehung. »Wenn ein Mensch liebt, dann verletzt er den Geliebten nicht. Respekt und Fürsorge füreinander sind unsere Säulen«, meinen Yevgeniya (71) und Mykhailo Vychegzhanin (75). »Liebe, Geduld, Nachgiebigkeit, Kompromissbereitschaft sowie die Kunst des Zuhörens«, ergänzen Liudmyla und Vadym Kaplun.

Sie leben alle in Frankfurt

Sie leben alle in Frankfurt, sind schon seit mehreren Jahrzehnten verheiratet und haben sich nun ein zweites Mal trauen lassen, denn nach der standesamtlichen Hochzeit vor vielen Jahren wollten sie sich noch einmal nach jüdischer Tradition das Jawort geben. Auch war es ihnen wichtig, dass ein Rabbiner dabei ist. Deshalb standen sie jüngst unter der Chuppa. Das ist ein neues Angebot der Jüdischen Gemeinde Frankfurt.

Initiatoren sind Evgenia Levin und Rabbiner Julian-Chaim Soussan, die zusammen das Schidduch-Programm ins Leben gerufen haben, mit dem sie Juden bei der Suche nach Liebe und familiärem Glück behilflich sein möchten. Etwa mit jüdischen Hochzeiten. Diese wurden zum ersten Mal in größerem Stil umgesetzt. Vor der Trauung waren die Frauen noch in der Mikwe. Vier Paar trauten sich. Gegen eine geringe Summe ist das auch in Zukunft weiter möglich.

Bereits bei der ersten Hochzeit gab es jüdische Musik und jüdisches Essen.

Über Freunde haben sich Alexandra und Leonid in Transpol in Moldau kennengelernt. Ein Jahr später gaben sie sich das Jawort – das ist nun 52 Jahre her. Sie wurde Ingenieurin für Gießereiausrüstung, er für medizinische Ausrüstung. 1997 verließen sie ihre Heimat, um mit ihrer Tochter und ihrem Sohn nach Deutschland zu ziehen. Zu ihrer ersten Hochzeit kamen 200 Gäste. »Alle Liebsten waren da.«

Die Feier fand im Sommer statt, und es gab viele Gladiolen. Das Fest wurde im Saal des Werks »Litejnie Maschini imeni Kirova Teraspol« gefeiert. »Die Mehrheit unserer Gäste war jüdisch.« Weiter sagt Alexandra: »Auf unserer Einladung stand: ›Beginn um 7.40 Uhr‹, denn so heißt der berühmteste jüdische Song in der ehemaligen Sowjetunion.«

Gegenseitiges Verständnis, Hilfe und Nachgiebigkeit

Jüdische Musik und jüdische Gerichte, vor allem Gefilte Fisch, waren ein unverzichtbarer Teil des Festes, so Alexandra. Gegenseitiges Verständnis, Hilfe und Nachgiebigkeit und das gemeinsame Treffen von Entscheidungen würden ihre Ehe auszeichnen. Gleichzeitig müsse es eine Person geben, die den Ton angibt, ohne den anderen zu unterdrücken. Das Paar ließ sich von Evgenia Levin überzeugen, unter die Chuppa zu treten. »Wir wollen ein Beispiel für andere sein.«

Ihre Kinder und Enkelkinder seien stolz auf sie, dass sie so viele Jahre zusammen sind. »Sie haben irgendwie verstanden, dass das eine verantwortungsvolle und sehr festliche Angelegenheit ist.« Ein Gruppenfoto wurde gemacht, das sie ihren Verwandten in den USA, in Israel und Moldawien geschickt haben. »Ich habe irgendwo gelesen, dass es selten vorkommt, dass Liebe auf den ersten Blick in eine goldene Hochzeit übergeht. Uns ist es gelungen«, sagt Alexandra.

Was ihrer Ehe auch guttue, ist, dass beide sehr beschäftigt sind: Leonid schreibt Gedichte, tanzt, besucht ein Theaterstudio, Alexandra hilft ehrenamtlich beim Treffpunkt für Schoa-Überlebende und leitet im Günter-Feldmann-Zentrum einen Literaturklub. Ferner bietet sie Führungen für Freunde in Frankfurt und Worms an. Zusammen unternehmen sie lange Spaziergänge und kümmern sich um die Enkel.

Die vier älteren Paare sind neue Freunde geworden.

»Wir hatten in unserer Heimat, in Russland, nicht die Möglichkeit dazu, jetzt sind wir glücklich, dass wir die Chuppa nachholen konnten«, meinen Alla und Vladimir Donskoi. Sie möchten auch ein Vorbild für ihre Söhne (24 und 15) sein und hoffen, dass diese ebenfalls nach jüdischem Brauch heiraten werden. Vor etwa 30 Jahren haben sich Alla und Vladimir in Nischni Nowgorod zum ersten Mal bei einer Veranstaltung der jüdischen Gemeinde gesehen, ein Jahr später haben sie sich getraut. »Unsere erste Hochzeit war sehr lustig und heiter, und wir waren fidel.«

Fast alle Gäste stammten aus der Clique junger russischer Juden. »Aber sie fand ohne koscheres Essen und ohne Rabbiner statt, dafür nach sowjetischer Art in der Kantine des Werks ›Beweger der Revolution‹.« Anschließend wurde sie Zahnärztin, er Wirtschaftsprüfer.

Jeden Schabbat einen Blumenstrauß

Nach der jetzigen Hochzeit habe es eine große Resonanz gegeben, erzählen die beiden. »Sogar Menschen, die wir kaum kannten, haben uns gratuliert. Viele Leute, mit denen wir seit Jahren keinen Kontakt mehr hatten, besonders aus Russland, haben uns Glückwünsche geschickt.« Einen besonderen Brauch haben sie nun eingeführt: Vladimir schenkt seiner Frau jeden Schabbat einen Blumenstrauß. »Das hat unser Familienleben sehr bereichert.«

Auch der Einfluss auf ihre Kinder sei groß gewesen. »Unser älterer Sohn war überrascht, dass wir vor ihm unter der Chuppa standen.« Er hatte erwartet, dass seine Eltern ihn zuerst zur Chuppa begleiten. »Nun haben wir ihn davon überzeugt, dass dies ein richtiger und notwendiger Schritt ist.« Vor zwei Jahren kam die Familie nach Deutschland, derzeit besuchen die Donskois Sprachkurse, um so schnell wie möglich Deutsch zu lernen. Die beiden mögen das jüdische Leben, vor allem bei Chabad. Sie engagieren sich ehrenamtlich bei Veranstaltungen und möchten ein aktiver Teil der Gemeinschaft sein. Ihr ältester Sohn war bereits mit Taglit in Israel. Er hat dort für Soldaten Essen vorbereitet.

Liudmyla und Vadym Kaplun, beide 63 Jahre alt, er Energie-Ingenieur, sie Musiklehrerin, waren sehr überrascht, wie viele Menschen sie auf diese Hochzeit angesprochen haben. »Sogar auf der Straße wurden wir erkannt.« Außerdem hat das Paar neue Freunde gefunden: die anderen drei Paare, die auch unter der Chuppa standen. »Uns verbinden gemeinsame Eindrücke und positive Erinnerungen«, sagen die beiden.

Die Traditionen kennenlernen

In der Ukraine hätten sie damals keine Zeit gehabt, sich mit dem Judentum auseinanderzusetzen. Jetzt können sie sich als Rentner ihren Alltag ganz anders einteilen und besuchen viele Veranstaltungen der Gemeinde und des Chabad-Hauses. »So lernen wir die Traditionen kennen.« Ferner pauken sie Deutsch, kümmern sich um ihre Enkeltochter und unterstützen ihre Tochter.

1979 sind sich Liudmyla und Vadym Kaplun an einem Feiertag, dem Fest der Oktoberrevolution, in der Wohnung eines gemeinsamen Freundes zum ersten Mal begegnet. Vier Jahre später heirateten sie. »Wir waren sehr aufgeregt. Im Standesamt haben meine Knie gewackelt«, erinnert sich Liudmyla. Die Feier fand im Restaurant »Dnepropetrowsk« statt. 20 enge Freunde waren dabei, später feierten sie zu Hause mit Freunden und Verwandten. Es wurden an diesem Tag viele Fotos von ihnen neben Denkmälern gemacht. »Mein Lieblingsbild ist das, auf dem mich Vadym auf Händen trägt«, so Liudmyla.

Vor zwei Jahren flohen sie aus Dnipro nach Frankfurt. Nach ihrem Umzug kamen sie dem Judentum näher und lernten auch Rabbiner kennen. »Das beeinflusste unsere Entscheidung.«

Auch Yevgeniya (71) und Mykhailo Vychegzhanin (75) aus der Ukraine, sie Bauingenieurin, er Ingenieur-Geologe, standen kürzlich unter der Chuppa. In ihrer Jugend waren sie erst Freunde, und sechs Jahre später wurden sie ein Paar. Sie lernten sich in Charkiw bei der Arbeit kennen. 1981 heirateten sie, seitdem seien sie »glücklich« miteinander. Und das schon seit 43 Jahren. Ihre erste Hochzeit fand zu Hause in der Zweizimmerwohnung statt. 40 Leute kamen, in einem Zimmer wurde getanzt, in dem anderen gegessen.

»Da wir im Februar heirateten, lief die Heizung, und die Temperaturen stiegen«, so das Paar. »Wir saßen in der Nähe der Heizung – bis es uns zu heiß wurde und wir nach draußen gingen.« Sie liefen in den Park in der Nähe ihres Hauses und legten an einem Puschkin-Denkmal Blumen nieder.

Nun hatten sie sich beide entschieden, sich noch einmal nach jüdischem Brauch das Jawort zu geben – auch, um sich stärker als Teil der jüdischen Community zu fühlen. Ihr Sohn, der sehr religiös ist, kam extra aus Israel. »Er fand die Hochzeit sehr schön.«

Fotos und Erinnerungen

Sie erfreuen sich an den Fotos und den Erinnerungen – und sie haben sich mit einem anderen Paar, das am selben Tag wie sie auch noch einmal heiratete, angefreundet. Ihr Sohn ist 37 Jahre alt, ihre Tochter 42. Mittlerweile gibt es sieben Enkelkinder.

1996 entschied sich das Paar, nach Deutschland zu emigrieren. Ihre erste Station war Chemnitz. 20 Jahre später zogen sie nach Frankfurt, wo ihre Tochter mit Familie lebt. »Seitdem sind wir Großeltern auf Abruf und springen ein, wenn wir bei der Kinderbetreuung gebraucht werden.«

Als Rentner haben sie viel Zeit, die sie mit Lesen verbringen. Yevgeniya Vychegzhanin hat viele Hobbys: Sie näht und strickt Spielzeugpuppen und Clowns. Nun hat sie eine neue Aufgabe, denn sie hat Evgenia Levin versprochen, Puppen für Veranstaltungen zu stricken, als Dank für ihre schöne Chuppa.

Hamburg

»Our Turn«: Zentralrat und ZWST veranstalten Jugendkongress 2025

Den Teilnehmern sollen »Methoden, Chancen und Vorbilder« gezeigt werden, mit denen sie sich selbst verwirklichen können sollen

von Imanuel Marcus  11.12.2024

Magdeburg

Sachsen-Anhalt setzt Förderung jüdischer Einrichtungen fort

Die Projektauswahl wird vom Beirat für jüdisches Leben begleitet

 11.12.2024

Interview

»Damit ihr Schicksal nicht vergessen wird«

Die Schauspielerin Uschi Glas setzt sich für die Befreiung der israelischen Geiseln ein. Ein Gespräch über Menschlichkeit, Solidarität und Gegenwind

von Louis Lewitan  11.12.2024

Stuttgart

Opfer eines Schauprozesses

Nach fast drei Jahrzehnten Stillstand wurde nun ein Platz eingeweiht, der Joseph Süß Oppenheimer gewidmet ist

von Brigitte Jähnigen  10.12.2024

Esslingen

Antike Graffiti

Der Künstler Tuvia ben Avraham beschreibt das Judentum anhand uralter Buchstaben – und jeder darf mitmachen

von Valentin Schmid  09.12.2024

Berlin

Campus mit Kita und Café

Noch bis zum 10. Dezember können Architekten ihre Entwürfe für den Neubau an der Synagoge Fraenkelufer einreichen

von Christine Schmitt  09.12.2024

München

Mit Erfahrung zum Erfolg

Die Spieler des Schachklubs der IKG gehören zu den stärksten in Bayern – allen voran Leonid Volshanik

von Vivian Rosen  09.12.2024

Bundestag

Zentralrat der Juden schlägt Maßnahmen für Schutz jüdischen Lebens vor

Was der jüdische Dachverband von den Parteien mit Blick auf die Neuwahlen erwartet

 09.12.2024

Frankfurt

»Voll akzeptiert in der Gemeinde«

Rabbinerin Elisa Klapheck über das Jubiläum des Egalitären Minjans und das Konzept »Alle unter einem Dach«

von Ralf Balke  07.12.2024