Porträt der Woche

Eigene Choreografie

»Bereits als Kind habe ich in unserer jüdischen Gemeinde in der Ukraine sehr gern getanzt«: Galyna Kapitanova (46) aus Leipzig Foto: Hanna Kapitanova

Porträt der Woche

Eigene Choreografie

Galyna Kapitanova ist IT-Expertin, Madricha und leitet eine Tanzgruppe

von Alicia Rust  14.04.2025 21:56 Uhr

Mein erster Eindruck von Deutschland, insbesondere von Sachsen – inmitten der dunkelsten Jahreszeit im Dezember – war hell, freundlich und schön. Ganz anders, als bei uns zu Hause in der Ukraine, wo überwiegend Plattenbauten das Stadtbild prägten.

Durch das Busfenster blickten wir bei unserer Ankunft in Deutschland auf vorbeifliegende Orte mit hübschen Häusern. In der Vorweihnachtszeit war alles festlich geschmückt, und ich kam aus dem Staunen nicht heraus, als ich überall Leuchter in den Fenstern sah, die mich stark an unsere Menora erinnerten. Ungläubig fragte ich: »Oh, so viele Juden hier? Das kann doch gar nicht sein!«

Es stellte sich heraus, dass viele Menschen ihre traditionellen Schwibbögen aus dem Erzgebirge während der Weihnachtszeit in die Fenster stellten, die ähnlich wie bei uns sieben Kerzen oder Lichter tragen und auch sonst Parallelen mit unseren jüdischen Kerzenständern aufweisen. Heute muss ich über meinen damaligen ersten Eindruck lachen.

Mit »wir« meine ich meine Eltern, meine drei Jahre jüngere Schwester und mich

Mit »wir« meine ich meine Eltern, meine drei Jahre jüngere Schwester und mich. Im Jahr 2000 kamen wir als Kontingentflüchtlinge aus der Ukraine nach Deutschland, wo es zunächst in ein Auffanglager nach Meerane ging. Im ehemaligen Lehrlingswohnheim wurden wir freundlich von anderen jüdischen Flüchtlingen aufgenommen, die uns sogleich beim Transport unseres Gepäcks halfen. Der Bus konnte wegen der vereisten Straßen nicht einmal bis zur Einfahrt hochfahren. Nach ein bis zwei Wochen zogen wir in einen kleinen Leipziger Vorort, nach Borsdorf. Später ging es weiter nach Leipzig.

Wenn ich erzähle, dass ich in Sachsen lebe, fragen mich viele Menschen nach den dort lebenden Nazis. Dazu muss ich sagen, dass alle, die in der Sowjet­union aufgewachsen sind, Deutschland automatisch mit Nazis assoziieren. Wir sind durch die vielen Filme über den Krieg geprägt, die wir in unserer Jugend gesehen haben. Ich persönlich habe keine Begegnungen mit (Neo-)Nazis gehabt.

Bald hat die ganze Familie einen Deutschkurs absolviert. Meine Mutter konnte ein bisschen Jiddisch, bedingt durch meine Großmutter, die als Kind nur Jiddisch sprach, bis sie in die Schule kam. Es fiel meiner Mutter also leichter. Ich fand das Lernen der deutschen Sprache nicht so schwer, wir waren ja noch jung, aber natürlich lag es auch an unserer damaligen Lehrerin, die uns sehr motiviert hat.

Sie war durch die DDR-Zeit geprägt, also ein bisschen streng, aber sie war sehr fair, und das hat dazu geführt, dass wir nach rund sechs Monaten über einigermaßen gute Sprachkenntnisse verfügten. Dafür bin ich dankbar. Denn ohne die Sprache hätte ich mich unwohl und isoliert gefühlt.

Als 16-Jährige wollte ich eigentlich nach Israel, doch meine Eltern hatten Bedenken.

Zuvor, in meiner Heimat in Tscherkassy, einem Ort, der bislang einigermaßen vom Krieg verschont geblieben ist, etwa 160 Kilometer von Kyjiw entfernt, hatte ich nach der Schule eine Finanzfachschule besucht, anschließend eine Hochschule, wo ich mich auf den Bereich Finanzen spezialisiert hatte. Ursprünglich wollte ich noch weiter studieren, doch dann kam die Chance, nach Deutschland zu gehen.

Meine Mutter hat ihr ganzes Leben bei einer Bank gearbeitet, mein Vater ist ursprünglich Ingenieur

Meine Mutter hat ihr ganzes Leben bei einer Bank gearbeitet, mein Vater ist ursprünglich Ingenieur. In Deutschland hat er eine Weiterbildung gemacht und schließlich bis zu seiner Rente im Ariowitsch-Haus, im jüdischen Kulturhaus, als Hausmeister gearbeitet. Meine Mutter war bis zu ihrer Pensionierung als Buchhalterin tätig. Meine Schwester, die damals 18 Jahre alt war, hat das Konservatorium in Leipzig besucht, heute ist sie Pianistin und Musiklehrerin. Zuvor hatten wir extra einen C1-Kurs besucht, damit wir studieren können, ich wollte mich weiter mit Finanzen beschäftigen, mir fehlte eigentlich nur noch das Staatsexamen. Der Grund für unseren raschen Aufbruch nach Deutschland? Unser Visum galt nur für eine bestimmte Zeit, wir konnten nicht länger warten.

Als ich nach Deutschland kam, war ich bereits mit meinem heutigen Mann zusammen, damals noch mein Freund. Er kommt ursprünglich aus meiner Heimatstadt, allerdings ist er im Alter von 14 Jahren nach Israel ausgewandert. In den Ferien besuchte er seine Familie, dann sahen wir uns. Gemeinsam hatten wir überlegt, uns eine Zukunft in Deutschland aufzubauen. Im Alter von 16 Jahren wollte ich ursprünglich nach Israel, doch meine Eltern hatten Bedenken.

Nun galt es, in Deutschland rasch eine Arbeit zu finden, also habe ich in einer Apotheke als Bürokauffrau angefangen. Daraufhin kam mein Freund nach Deutschland. Anschließend habe ich eine Weile einen anderen Bürojob gemacht, bis ich Mutter wurde. Drei Jahre nach meiner ersten Tochter kamen Zwillinge, sechs Jahre war ich im Erziehungsurlaub, danach erhielt ich ein Angebot, in der IT zu arbeiten, dort war ich zwölf Jahre in einer Dienstleistungsfirma für Krankenkassen tätig.

Schließlich wollte ich etwas anderes machen und bin als IT-Fachkraft in der Bank gelandet, beim User-Help-Desk, das mache ich ausgesprochen gern. Mein Mann hat im dualen Studium eine Ausbildung in der IT gemacht, er arbeitet ebenfalls in der Branche. In der Ukraine hätten wir hingegen kaum eine ökonomische Perspektive gehabt.

Neben meiner Familie und meinem Job liegt mir mein Ehrenamt am Herzen

Neben meiner Familie und meinem Job liegt mir mein Ehrenamt am Herzen. In meinem Heimatort hatte ich an der jüdischen Sonntagsschule gearbeitet und eine Ausbildung zur Madricha gemacht, also als Gruppenleiterin für Jugendliche. Die Seminare wurden von Pädagogen und Psychologen aus Israel veranstaltet, eine großartige Erfahrung.

Anfangs war ich zwar in der jüdischen Gemeinde in Leipzig, doch als meine Tochter in die erste Klasse kam, gab es keine Programme für Schulkinder, erst ab dem Studentenalter. Es gab ein Purimfest für Kinder, aber sonst nichts. Dadurch, dass ich selbst ab dem Alter von zwölf Jahren so eine tolle Jugenderziehung genossen hatte, bedauerten meine Schwester und ich, dass es in Leipzig nichts Vergleichbares gab.

Vor elf Jahren begannen wir, eine Ferienbetreuung, ein Tagescamp, für jüdische Kinder zu organisieren.

Deshalb begannen wir vor elf Jahren, eine Ferienbetreuung, ein Tagescamp, für jüdische Kinder zu organisieren. Die Kinder fanden das toll, meine Tochter war damals sieben Jahre alt. Aus einem anfänglichen Testlauf entwickelten wir schließlich ein richtiges Projekt.

Die Leipziger Gemeinde ist nicht reich, und für ein Projekt braucht man natürlich Materialien, um beispielsweise Ausflüge zu unternehmen. Glücklicherweise haben wir vom Zentralrat der Juden Unterstützung bekommen, so konnten wir ein richtiges Programm auf die Beine stellen. Seit vielen Jahren veranstalten wir regelmäßige Treffen mit Kindern und Jugendlichen. Seit einigen Jahren haben wir auch Familientreffen im Jugendklub »Leipziger Chaverim«. Bei meiner Arbeit war ich nie allein. Immer erhielt ich Unterstützung von der Gemeinde und von Mitgliedern, meine Schwester war am Anfang auch regelmäßig dabei.

Bereits als Kind habe ich in unserer jüdischen Gemeinde in der Ukraine getanzt

Die Tanzgruppe war eines der ersten Projekte, das mich an der jüdischen Gemeinde beschäftigt hat. Bereits als Kind und als Jugendliche habe ich in unserer jüdischen Gemeinde in der Ukraine sehr gern getanzt. So begann ich mit einem kleinen Projekt in meiner neuen Heimat: israelische Kreistänze, die ich irgendwann selbst choreografiert habe.

Heute ist unsere Gruppe sehr professionell, es ist zwar ein Hobby, allerdings auf einem höheren Niveau. Wir treffen uns einmal pro Woche, und wenn Auftritte bevorstehen, auch mehrfach. Unter den Tänzern sind Juden und Nichtjuden. Wir haben sogar unsere eigenen Kostüme. Nicht viele, aber sehr schöne, zwei davon hat ein Freund aus der Ukraine geschneidert, die er sogar selbst entworfen hat.

Eine meiner Leidenschaften ist das Reisen. Ich liebe es, Neues zu entdecken. Daneben mache ich Sport, um mich fit zu halten, die Frühgymnastik gehört zu meinem festen Pensum. Auch backe ich gern. Unsere Familie ist nicht sehr religiös, doch wir halten die jüdischen Feiertage ein. Mein größter Traum? Dass die Kriege endlich aufhören und der Hass überwunden wird. Diese Hoffnung muss bleiben!

Die Leipziger Oper veranstaltet – wie jedes Jahr – am »Welt-Tanztag«, dem ­29. April, ein besonderes Event: Vor der Oper wird eine Bühne aufgestellt, neben vielen anderen Tanztruppen nehmen wir seit Jahren mit unserer Gruppe »Gvanim« teil und geben einen Workshop für israelische Tänze. Das Motto? Wenn an einem Tag alle tanzen würden, dann wäre ein Tag lang kein Krieg.

Aufgezeichnet von Alicia Rust

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