Porträt der Woche

Die Aquaristin

»Ich bin Rentnerin, habe aber immer noch Lust, Neues zu lernen«: Irina Jadanovski (68) aus Ulm Foto: Brigitte Jähningen

Porträt der Woche

Die Aquaristin

Irina Jadanovski war Ingenieurin und handelte mit exotischen Fischen

von Brigitte Jähnigen  18.08.2024 11:27 Uhr

In diesem Jahr haben mein Mann und ich religiös geheiratet. 50 Jahre nach unserer staatlichen Eheschließung in Vinniza in der Ukraine war das etwas sehr Besonderes. Wir feierten ein großes Fest in der Gemeinde, zu dem wir 60 Gäste empfingen. Natürlich sind auch meine Tochter Natali mit ihrem Mann und Talia, meine Enkelin aus Frankfurt, gekommen. Vor der Hochzeit war ich zum ersten Mal in meinem Leben in der Mikwe. Das muss man sich einmal vorstellen: mit 68 Jahren! Nach der religiösen Trauung war ich erstaunlich glücklich. Es war so ein Gefühl, als würde ein neues Leben beginnen, als sei ich jünger geworden.

Mein Mann Arkadi, meine Tochter Natali und ich kamen im Jahr 1994 nach Deutschland. Wir gehörten also zu den sogenannten Kontingentflüchtlingen. Perestroika und Glasnost waren die Schlagwörter dieser Zeit in der Sowjetunion. Doch hinter der Oberfläche dieser Hoffnungen auf mehr Freiheit saßen jede Menge giftige Bakterien des Antisemitismus. Einmal bin ich auf der Wassiljewski-Insel in St. Petersburg in eine Versammlung Rechtsnationaler geraten. Sie machten antisemitische Propaganda. Viele Leute waren da, Polizei, Krankenwagen – es war eine bedrohliche Stimmung. »Jetzt ist Schluss, wir sind in Gefahr, wir fahren nach Amerika«, habe ich meinem Mann nach der Rückkehr nach Vinniza gesagt.

Die Antragstellung für die amerikanische Botschaft in Moskau war sehr aufwendig, dennoch kam keine Antwort. Inzwischen war mein Schwager – wie auch andere Bekannte – nach Israel ausgewandert. Israel war Ende der 80er-Jahre ganz anders als heute. Nicht so entwickelt, irgendwie halb arabisch. Ich wollte weg, aber in ein wirtschaftlich entwickeltes Land, warum sollte ich mein Leben verschlechtern? Bis 1989 hatte ich als IT-Ingenieurin in der medizinischen Statistik gearbeitet, Arkadi arbeitete in einer Metallwerkstatt. Ziemlich früh wurde er herzkrank. Wir sind Juden. Wir sitzen nicht und warten, bis uns einer hilft, damit es uns besser geht.

Fische als Haustiere

Damals hatten viele Leute zu Hause ein Aquarium. Es war eine Leidenschaft, Fische als Haustiere zu halten. Also machten wir einen Versand mit exotischen Fischen auf. Wir lebten zu dritt in einer Zweizimmerwohnung. Das eine Zimmer war zugestellt mit Aquarien voller Fische, die wir gezüchtet haben. Guppys, Buntbarsche, Goldfische, Schwertträger und Welse.

Wir haben die Fische auf Märkten verkauft. Arkadi in Vinniza, ich auch außerhalb. Bis zu 100 Kilometer bin ich zu diesen Märkten gefahren. Eigentlich schämte ich mich, Fische zu verkaufen, aber wir haben nicht schlecht davon gelebt. Es war eine geniale Idee meines Mannes. Als Ingenieur verdiente ich 140 Rubel im Monat, auf dem Sonntagsmarkt mit dem Verkauf der Fische 800. Das produzierte natürlich auch Neid, so war das Anfang der 80er.

Ich schämte mich, Guppys zu verkaufen, aber wir lebten nicht schlecht davon.

Nach der Perestroika haben wir eine Kooperative gegründet mit dem Namen »Natascha«. Wir mieteten einen großen Raum, nahmen einen Kredit auf, kauften Maschinenausrüstungen und beschäftigten 100 Näherinnen. Die produzierte Kleidung wurde in der ganzen ehemaligen Sowjetunion vertrieben und von St. Petersburg aus bis nach Sibirien in Containern ausgeliefert. Auch eine große Kaufhauskette war unser Partner. Die haben uns dann eine große Summe Geld geschuldet und behauptet, sie hätten sie an uns überwiesen. Aber ich als IT-Fachfrau habe es überprüft und die Summe gefunden. Den Fischhandel gab es damals nicht mehr.

1994 gingen wir dann also nach Deutschland. Wir fühlten uns von der Bundesregierung als Juden eingeladen. Mit einem Bus verließen wir die Ukraine, fuhren durch Polen und landeten in der Grenzstadt Görlitz. Von dort ging es nach Karlsruhe in ein Aufnahmelager. Wir blieben etwa einen Monat. Im Rückblick muss ich sagen: Dort war es eine Katastrophe. Aber sie ging vorüber.

Synagoge in Stuttgart

Wir hatten gehört, Ulm sei eine kleine, gemütliche Stadt mit Industrie, also der Möglichkeit, Arbeit zu finden. Eine jüdische Gemeinde gab es damals noch nicht. Die nächste Synagoge war in Stuttgart. Einmal waren wir dort. Einmal und nie wieder – wir fühlten uns nicht willkommen. Nach dem Aufenthalt in einem Ulmer Wohnheim lebten wir zu dritt – unsere Tochter war zwölf – in einem Zimmer. Das hatte 14 Quadratmeter.

Ich habe zwar in der Schule Deutsch gelernt, doch in den sozialistischen Schulen war Fremdsprachenunterricht nicht auf Konversation ausgerichtet. Ich begann einen Sprachkurs. In der Ukraine hatte Arkadi darauf bestanden, dass unsere Tochter Englisch lernte. Es dauerte, bis wir die richtige Schule für sie fanden. Als wir sie in ein empfohlenes Internat brachten, gab es Tränen. Wir nahmen sie wieder zurück. In unserem Zimmer hatte ich überall Vokabelzettelchen angebracht, so habe ich gelernt.

Mein Mann wollte Geschäfte aufbauen. Nach einem Monat in Ulm kaufte Arkadi einen alten Mercedes-Bus, und wir fuhren nach Vinniza und kauften Zierfische. Inzwischen hatten wir eine größere Wohnung. Und wieder stellten wir in einem Zimmer Aquarien auf, meldeten ein Unternehmen an. Später hatten wir auch ein Fachgeschäft für Aquaristik und einen gleichnamigen »Aquarienkeller«.

2020 kam Rabbiner Shneur Trebnik mit seiner Frau Chani aus Israel nach Ulm. Er war dem Ruf der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs gefolgt. Irgendjemand hatte den beiden gesagt, dass es eine jüdische Familie in Ulm gibt – so haben wir uns kennengelernt. Zwölf Jahre später wurde in Ulm am Weinhof eine neue Synagoge eingeweiht. Wir können zu Fuß dorthin laufen, an Schabbat und den Feiertagen. Im Foyer der Synagoge steht ein Aquarium mit Zierfischen, das ich selbst aufgestellt habe.

Leider geht es meinem Mann derzeit nicht so gut. Er bewegt sich, ich koche gesund, aber er ist aufgrund seines Herzens zu 100 Prozent behindert. An einem Tag war er wegen eines unruhigen Herzschlags beim Hausarzt. Er kam in eine Klinik. Sein Ende nahte. Ich rief unsere Tochter in Frankfurt an, wo sie mit ihrer Familie lebt.

In Gottes Hände fallen

Aber zuallererst rief ich Rabbiner Trebnik an. Ich war nicht so religiös, aber zu ihm hatte ich Vertrauen. Und ich sagte, das kann nicht das Ende sein. Mit seiner und Gottes Hilfe würde Arkadi am Leben bleiben. In der Nacht wurde er mit dem Hubschrauber nach Regensburg geflogen und an eine Art Herz-Lungen-Maschine angeschlossen. Was soll ich sagen? Arkadi überlebte. Damals hatte ich das starke Gefühl, in Gottes Hände zu fallen.

Wir haben geheiratet, eine Tochter bekommen, gearbeitet, Geschäftsideen gemeinsam umgesetzt, die Ausreise nach Deutschland geschafft – und jetzt auch religiös geheiratet. Unsere Tochter sehen wir oft, meistens einmal im Monat. Seit dem Massaker am 7. Oktober 2023 weht auf ihrem Balkon eine Israelfahne. Meine Tochter und ihre Familie sind sehr mutig, sie lassen sich nicht beirren. »Ich bin stolz, dass ich Jüdin bin!«, sagt Natali und hat die Fahne, als sie heruntergerissen wurde, wieder aufgehängt.

Ich bin stolze Großmutter. Unsere Enkeltochter ist musikalisch sehr begabt.

Ich bin stolze Großmutter. Unsere Enkeltochter ist musikalisch sehr begabt. Beim Landeswettbewerb Hessen »Jugend musiziert« wurde sie mit dem ersten Preis im Klavierspiel ausgezeichnet. Sie ist erst 13 und studiert neben dem Gymnasium schon an der Universität Frankfurt Mathematik und Informatik.

Manche sagen, das arme Kind habe keine Kindheit. Dem widerspreche ich, sie spielt sogar Fußball beim TSV Makkabi Frankfurt. Als unsere Tochter klein war, hatten wir wenig Zeit für sie. Wir waren so beschäftigt, eine Existenz in UdSSR zu gründen. Wir mussten überleben.

Große Lust, etwas Neues zu lernen

Ich bin nun Rentnerin, habe aber immer noch große Lust, etwas Neues zu lernen. Auch in religiöser Hinsicht. In der Ukraine habe ich schon Hebräisch gelernt, nun möchte ich besser Englisch sprechen und endlich Flamenco tanzen lernen. Ich helfe Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine geflüchtet sind, indem ich für sie dolmetsche.

Wenn Donald Trump Präsident von Amerika wird, dann gibt es keine umfassende Hilfe mehr für die Ukraine, und das Land wird diesen Krieg verlieren. So denke ich. So denken viele. Gern möchte ich noch einmal nach Vinniza fahren, die Gräber der Familie besuchen. Und ja, es war eine sehr gute Entscheidung vor 30 Jahren, nach Deutschland zu kommen. Das habe ich schon 1996 ganz stark gespürt, als wir in die Ukraine gefahren sind. An der Grenze zu Deutschland, auf der Rückkehr nach Ulm, sagte ich: Endlich sind wir zu Hause!

Aufgezeichnet von Brigitte Jähnigen

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