Ostdeutschland

»Das ist auch unser Land«

In Sachsen, Thüringen und Brandenburg wird im September ein neuer Landtag gewählt. Alle drei Wahlen stehen unter besonderer Beobachtung – vor allem wegen des Umfragehochs der AfD. Könnten die Wahlen im Osten die Republik verändern? Oder ist eine Veränderung schon längst eingetreten?

Ohne Vorurteile und mit viel Zuversicht ist Vladimir Shikhman vor Jahren nach Sachsen gezogen – doch nun dominieren die Sorgen darüber, was nach der Landtagswahl sein wird, die am 1. September stattfindet. Denn er kennt autoritäre Herrschaft aus erster Hand. 2003 war er aus Russland nach Deutschland emigriert.

»Ich wollte nicht in einem Land leben, in dem Putin als Diktator regiert, auch wenn damals vieles noch nicht absehbar war«, sagt der 42-jährige Wirtschaftsmathematiker. 13 Jahre später bekam er einen Ruf an die TU Chemnitz. »Ich erwarte, dass die AfD die stärkste Kraft wird und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) auf Anhieb zweistellig wird.«

Viele Gemeindemitglieder sind sehr in Sorge, ob es die demokratischen Parteien schaffen.

Gesichert dürfte sein, dass die CDU in den neuen Landtag einzieht, aber ob die SPD und die Grünen das noch schaffen, wisse man derzeit nicht. Bei der jüngsten Umfrage des »Sachsen-Monitors« sei herausgekommen, dass sich 46 Prozent der Wahlberechtigten eine einzige starke Partei an der Spitze wünschen, die die ganze »Volksgemeinschaft« insgesamt verkörpert, so der 42-Jährige. »Wir müssen nicht mutmaßen, was dann hier passiert, wir können nach Ungarn schauen oder uns in Erinnerung rufen, was bis vor Kurzem in Polen los war, dann sehen wir, was uns erwartet.« Und es gebe auch noch die Partei Freie Sachsen, die als Sammelbecken verschiedener rechtsextremistischer Organisationen und Bewegungen gilt.

»Ich habe große Sorgen, wie der zukünftige Landtag aussehen wird«

Alexander Tsyterer hat für sie nur ein Wort: »Nazis«. »Ich habe große Sorgen, wie der zukünftige Landtag aussehen wird«, sagt der Student, ebenfalls aus Chemnitz. Aber auch der jetzige Wahlkampf bereitet ihm Kopfschmerzen: Der sei sehr brutal, so der Vorsitzende des Studierendenverbandes Jüdische Allianz Mitteldeutschland (JAM). Es werde zahlreiche Schmutzkampagnen geben, glaubt er. »Wir haben einige Plakate hier aufgehängt, die schon abgerissen wurden«, weiß der 21-Jährige zu berichten, der sich in der CDU engagiert. Im nächsten Jahr wird Chemnitz Kulturhauptstadt. »Wird es hier zu einer Art ›2018 2.0‹ kommen? Damals gab es eine Messerstecherei in Chemnitz, die in einem Mob endete. Das war auch der Anfang der radikalen Rechten hier in Chemnitz und Sachsen.«

Auch Vladimir Shikhman war 2018 in Chemnitz, als der Mob »Ausländer und Juden raus!« schrie. Der Antisemitismus sei laut der jüngsten Umfragen seither stärker geworden. Das sei nicht das Image, das sich Alexander Tsyterer für die Stadt wünscht. Viele Touristen werden Chemnitz besuchen. »Wir machen uns Sorgen, dass es wieder heißt: Chemnitz hat ein Naziproblem. Haben wir auch, aber es wird etwas dagegen getan.«

Die JAM möchte, dass an der Universität zum Thema Antisemitismus mehr unterrichtet wird. Menschen, die sich dafür interessieren, können den Kurs besuchen, sich fortbilden und eine Schlüsselqualifikation erreichen, sodass sie zum Beispiel als Beauftragte eingesetzt werden können. Auch Lehrer können für ihren Unterricht dieses Wissen einsetzen. Die AfD könnte genau das, wenn sie die Mehrheit stellt, blockieren. »Aber wir haben nicht nur das Problem mit der AfD, sondern auf gewisse Weise ebenfalls mit dem BSW.«

»Sie sprechen die Sprache der Bevölkerung; was sie hören möchte«

Dies sei in seinen Augen eine angehende populistische Partei. »Sie sprechen die Sprache der Bevölkerung; was sie hören möchte. Und man weiß auch, dass Frau Wagenknecht sehr skeptisch gegenüber Israel steht. Wir wissen aber nicht, wie sich die Partei zum Thema Antisemitismus verhalten wird.«

Doch Alexander Tsyterer ist auch der Meinung, dass das BSW einen Beitrag gegen Antisemitismus leisten könnte, wenn in Sachsen gute Politik gemacht würde. Denn »ein unzufriedener Sachse, der nächsten Monat seine Miete zahlen muss und nicht weiß, woher er das Geld nehmen soll, weil die Spritpreise und Lebensmittelkosten gestiegen sind«, habe andere Sorgen als Antisemitismus.

Was Vladimir Shikhman ebenfalls beschäftigt, ist die Haltung sowohl der AfD als auch des BSW zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. »Dazu kommt noch, dass alle extremistischen Parteien Putin, vor dem ich einst floh, unterstützen – das macht mich sehr nachdenklich«, sagt Shikhman.

Das Thema Ukraine sei ohnehin ein ganz großes – obwohl das nichts mit der Politik des Freistaats Thüringen zu tun habe, da auf Bundesebene entschieden werde, wie es mit der Militärhilfe und der Unterstützung der Geflüchteten in Deutschland weitergehe, sagt Oleg Shevchenko, Schatzmeister der SPD Thüringen. »Das ist natürlich ein Punkt, den Populisten gern nutzen. Sie gehen damit auf Stimmenfang, um dann ganz andere Dinge umzusetzen.«

»Ich habe bereits rassistische Vorfälle auch gegen meine Person erfahren müssen – und das nicht selten«

Nicht nur die Umfrage­ergebnisse alarmieren den 29-Jährigen. Bei Gesprächen bekommt er zudem ziemlich viele Positionen zu hören, die ihm Sorgen um die Zukunft des Freistaats bereiten. »Wenn man Migrant ist, hat das vielleicht einen anderen Stellenwert. Ich habe bereits rassistische Vorfälle auch gegen meine Person erfahren müssen – und das nicht selten«, so der gebürtige Ukrainer, der als Achtjähriger nach Mühlhausen kam. »Ich bekomme viel Hass ab.«

Er erlebe selbst im Bekanntenkreis sehr viel Zustimmung zu Positionen, die bereits außerhalb des demokratischen Spektrums zu finden seien, beispielsweise Hetze gegen Migranten. Auch Wut, Enttäuschung, Verzweiflung und das Gefühl, dass der Staat unfähig sei und gewissermaßen »vor die Hunde gehe« und dies das eigentliche Problem sei. »Das ist eine Situation, in der sich Personen gegenseitig aufwiegeln, was wiederum dazu führt, dass Antidemokraten immer stärker werden.«

»Für Jüdinnen und Juden ist Thüringen manchmal eine Herausforderung.«

Oleg Shevchenko

So gibt es in Sonneberg seit Kurzem den ersten und einzigen AfD-Landrat in Deutschland. Seither sei die Zahl rassistischer Straftaten – auch der antisemitischen – deutlich angestiegen. »Das ist schließlich nicht unverständlich, weil die Tabuisierung in Sonneberg jetzt aufgehört hat.« Für Jüdinnen und Juden sei Thüringen manchmal schon eine Herausforderung. »Ich habe das Gefühl, dass sich nun mehr Leute trauen zu sagen, was sie denken. Sie glauben, dass sie das jetzt dürfen. Die Enthemmung in Wort und Tat findet mittlerweile flächendeckend statt. Die Leute erzählen offen rassistische Dinge, die man sich wahrscheinlich vor zehn Jahren nicht getraut hätte zu äußern.«

Den Fernseher stellt Arkadij Schwarz aus Königs Wusterhausen am 1. September spätestens um 18 Uhr an. »Da wird das vorläufige Wahlergebnis verkündet, worauf ich sehr gespannt bin«, sagt er. Die Jüdische Gemeinde Königs Wusterhausen zählt etwa 70 Mitglieder. Arkadij Schwarz, der stellvertretende Gemeindevorsitzende, bezeichnet sie als kleinste in ganz Brandenburg, wo erst am 22. September der neue Landtag gewählt wird. »Ich finde es viel spannender, was nach den Wahlen passiert«, sagt er, »denn da beginnt erst der wirkliche Kampf«.

Die Mitglieder in Königs Wusterhausen seien sehr in Sorge, ob es den etablierten demokratischen Parteien gelingt, eine Mehrheit zu erreichen. Bisherige Umfragen hätten ergeben, dass die AfD in Brandenburg stärkste Kraft wird.

»Vor einem Jahr blickten unsere Mitglieder mit Sorge auf die Landtagswahlen, jetzt haben sie regelrecht Angst«

Die Haltung teilt auch Evgueni Kutikow, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Potsdam. »Vor einem Jahr blickten unsere Mitglieder mit Sorge auf die Landtagswahlen, jetzt haben sie regelrecht Angst. Vor dem Antisemitismus und um ihr Leben in Deutschland.« Erst kürzlich gab es in einem Bus einen antisemitischen Angriff auf einen jungen Mann, der eine Kippa trug. Nun werde ermittelt, sagt Kutikow. Rund 90 Prozent der Mitglieder seien nicht wahlberechtigt, denn sie hätten keinen deutschen Pass, so der 64-Jährige.

Diana Sandler, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Bernau und Antisemitismusbeauftragte der Jüdischen Gemein­den Brandenburgs, ist ebenfalls beunruhigt: »Wir beten und kämpfen, dass die Populisten nicht an die Macht kommen.«

Sie sehe eine große Gefahr für Menschen mit Migrationshintergrund, sagt Sandler. Da sie eine Frau der Tat ist, möchte sie aktiv etwas tun und möglichst viele Wähler überzeugen, ihre Stimme einer der demokratischen Parteien zu geben. Deshalb konzentriert sie sich derzeit auf die Aufklärungsarbeit, lädt zu Gesprächen ein und hält in diesen Wochen mehr als 40 Seminare. Sie möchte russischsprachige Juden und Spätaussiedler dafür sensibilisieren, selbst nachzulesen, was die AfD in ihrem Programm schreibt. Viele erreicht sie über die Sprache.

Diana Sandler selbst kam in den 90er-Jahren als Kontingentflüchtling nach Deutschland – und habe sich in den vergangenen Jahren für Flüchtlinge aus anderen Ländern engagiert, darunter auch Muslime. Die Populisten spielten die Angehörigen der verschiedenen Religionen gegeneinander aus, meint sie. Natürlich müssen sich auch Migranten anpassen. »Heute geht es gegen Muslime, morgen gegen Juden.«

Die AfD habe sich beispielsweise für ein Verbot des Schächtens und des Beschneidens ausgesprochen. »Das ist für uns unmöglich.« Weiter sagt sie: »Das ist auch unser Land.« Sie werde ihre ganze Energie in die Aufklärungsarbeit investieren, so die 54-Jährige.

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