Porträt der Woche

Das Geheimnis

»Ich wollte erfahren, wie eine internationale Airline Personal rekrutiert, und habe mich beworben«: Susanne Hanshold (71) aus Berlin Foto: Rolf Walter

Seit 15 Jahren feiere ich meinen Geburtstag alljährlich im Juni in Israel, nur einmal unterbrochen durch Corona. Das hatte sich durch meinen letzten Beruf als Flugbegleiterin so ergeben. Ich war bei einer Low-Cost-Airline beschäftigt, mit der wir regelmäßig Tel Aviv anflogen. Dort kannte ich schon bald viele Leute, von denen ich einige zuvor als Passagiere betreut hatte. So traf ich mich immer mit irgendwem und machte mir zu meinem Geburtstag regelmäßig einen schönen Tag.

In diesem Jahr war am Abend zuvor Erew Schabbat. Ich ging an den Strand, wo eigentlich immer Musik gemacht wird und eine schöne Atmosphäre herrscht. Ich dachte ein wenig über das nach, was sich im vergangenen Jahr ereignet hatte und was wohl im neuen Lebensjahr geschehen würde. Die Sonne ging unter – und der Alarm ging los. Bald fand ich mich mit wildfremden Menschen in einem Schutzraum wieder.

Als ich ihnen sagte, dass ich Geburtstag habe, sangen alle gemeinsam »Happy Birthday!«. Das war ein schönes Erlebnis. Natürlich hatte ich trotzdem Angst, denn im Gegensatz zu den anderen hatte ich das ja noch nie erlebt. Gleichzeitig war ich dem Leben gegenüber dankbar, dass ich
71 Jahre alt werden durfte und nie zuvor eine Sirene gehört habe, die eine ernste Gefahr signalisierte. Das war diesmal anders, und ich muss sagen, dass ich mich zwei Stockwerke unter der Erde sehr sicher gefühlt habe. Die anderen offenbar auch. Es sollte nicht unsere einzige Begegnung bleiben.

Nie im Leben hätte ich mir vorstellen können, was man in diesem Beruf alles lernen muss.

Zu Beginn der Angriffe des Iran gab es im Schutzraum noch keinerlei Einrichtung. Nur ein Stuhl stand darin, und es war wahnsinnig heiß. Von Tag zu Tag aber wurde die Ausstattung besser. Sitzgelegenheiten waren plötzlich da, ein Ventilator, ein Fernseher und schließlich sogar WLAN. Israel hatte inzwischen den Flugverkehr eingestellt, und ich, die ich eigentlich zwölf Tage bleiben wollte, blieb unfreiwillig fünf Wochen. In dieser Zeit habe ich mehr noch als zuvor ein Gefühl der absoluten Solidarität mit Israel und seinen Menschen entwickelt.

Ich durfte eine Bilderbuch-Kindheit erleben

Aufgewachsen bin ich in Eschwege, wo ich eine Bilderbuch-Kindheit verleben durfte, mit toleranten Eltern, die mir das Interesse an fremden Kulturen vermittelt haben. Nach dem Abitur habe ich in Göttingen Anglistik, Germanistik und Psychologie studiert. Eigentlich wollte ich Journalistin werden. Schon während des Studiums machte ich ein sechsmonatiges Volontariat beim Hessischen Rundfunk. In der Unterhaltungsredaktion des HR3 ergaben sich immer wieder Gelegenheiten, eigene Glossen unterzubringen.

So lag es nahe, nach dem Examen erst einmal wieder beim Hessischen Rundfunk anzuheuern, diesmal als freie Mitarbeiterin. Der Unterhaltungschef des Senders hatte vielfältige Kontakte, so auch in die Werbebranche. Durch seine Empfehlung kam ich zu einer sehr guten Agentur und im Laufe der Jahre auch zu anderen. Da ich vom Radio kam, habe ich neben der klassischen Produktwerbung von Campari bis Babywindeln auch Radio- und Fernsehtrailer produziert. Nach einer Weile betreute ich die internationalen Etats, was mich in Metropolen von London bis New York brachte. Die Werbebranche ist 25 Jahre lang mein Leben gewesen und hat mehrere Wohnsitzwechsel sowie am Ende sogar eine Ehe überstanden. Im Jahr 2005 passierte dann etwas, das aus Neugierde geschah und im Ergebnis so gar nicht geplant war.

Ich lebte mittlerweile in Berlin und war als Partnerin in eine Personalvermittlungsagentur für Mitarbeiter im Bereich Werbung eingestiegen. Da kannte ich mich aus, wusste um die Anforderungsprofile. Es war Ende der 90er-Jahre, also in einer Zeit, in der es begann, dass man vieles online erledigte. Irgendwann entdeckte ich, dass eine britische Low-Cost-Airline Personal suchte. Ich wollte erfahren, wie eine internationale Airline Personal rekrutiert, und habe mich als Flugbegleiterin beworben.

Ich wollte mir für unsere kleine Firma etwas abgucken

Auf diese Weise wollte ich mir für unsere kleine Firma etwas abgucken. Es bestand ja eigentlich nicht die Gefahr, dass man mich einstellen würde, dachte ich. Immerhin war ich schon 50 Jahre alt. Aber ich wurde zum »Assessment Day« eingeladen, bei dem die Eignung von Bewerbern umfassend geprüft wird. Überraschend kam ich bis in die letzte Runde. Man sagte mir, sie würden mich anrufen.

Nun, ich hatte alles gesehen, was ich sehen wollte, und war bereit, diese Erfahrung zu den Akten zu legen. Am nächsten Morgen riefen sie an. Man lud mich zu einer vierwöchigen Ausbildung nach London ein, die auch schon bezahlt würde. Irgendwie hatte ich Blut geleckt und ließ mich darauf ein. Nie im Leben hätte ich mir vorstellen können, was eine Flugbegleiterin alles lernen muss.

In einem fensterlosen Bürogebäude 80 Kilometer von London entfernt erlebten wir eine minutengenau durchgetaktete Ausbildung. Selbst die Zeit für den Toilettengang wurde vorgegeben. Aber es gab in meinem Leben noch nie die Option aufzugeben. Und so blieb ich auch hier dabei, obgleich das ja ursprünglich gar nicht beabsichtigt war. Nach dieser geradezu paramilitärisch organisierten Vorbereitung auf den Job fing ich an Bord an. Diese Arbeit machte mir trotz der Anstrengungen des Schichtdienstes Spaß, und so blieb ich bis zur Erreichung des Rentenalters.

Seit meiner Jugend trug ich eine Unsicherheit mit mir herum. In meiner Familie existierte ein Geheimnis um meine Großmutter mütterlicherseits, die in Hamburg lebte, einen Verehrer hatte, ihn aber nicht heiraten konnte.

Meine Oma wechselte immer an derselben Stelle der Geschichte das Thema

Wenn ich nachfragte, hat meine Oma immer an derselben Stelle der Geschichte das Thema gewechselt, meine Mutter auch. Oma war wohl dann von Hamburg nach Kassel gezogen und hatte dort eine Familie gegründet. Erst als meine Mutter 92 Jahre alt war, habe ich sie ganz konkret gefragt, ob ihre Mutter Jüdin war. Sie strahlte mich an und sagte: »Ja!«

Es gab dann noch ein weiteres kleines Gespräch, bei dem sie mir erzählte, die lange Verschwiegenheit sei vereinbart gewesen, um mich zu schützen. Und auch, dass die Oma in der NS-Zeit auf dem Weg von Hamburg nach Kassel neue Papiere besorgt hatte. Nun war ich ja als getauftes Protestanten-Mädchen aufgewachsen, hatte mich allerdings schon seit einiger Zeit mit dem Judentum beschäftigt.

Auf einem Flug von Tel Aviv nach Berlin war ich ins Gespräch mit dem Mann von Rachel Bendavid, der damaligen Religionslehrerin der Jüdischen Gemeinde, gekommen. Er lud mich ein, seine Frau kennenzulernen. In Berlin habe ich die beiden dann besucht, und nach einem längeren Gespräch riet mir die Religionslehrerin, in Berlin nacheinander die Gottesdienste in verschiedenen Synagogen zu besuchen, um herauszufinden, wo ich mich wohlfühle. Literatur hat sie mir auch empfohlen.

Eines dieser Bücher, das ich sofort bestellt und gelesen habe, war von Rabbiner Walter Rothschild und heißt Der Honig und der Stachel. Die Synagogenbesuche aber konnte ich erst unternehmen, als ich in Rente war.

In der Synagoge Pestalozzistraße wurde ich heimisch

Nachdem ich das Gros der Berliner Synagogen kennengelernt hatte, war es diejenige in der Pestalozzistraße, bei der ich schließlich heimisch wurde. Diese Synagoge besuchte auch Frau Bendavid, und ich lernte Leute kennen, mit denen ich inzwischen befreundet bin. Nach ein paar Wochen wandte ich mich an Jonah Sievers, den dortigen Rabbiner. Ihm erzählte ich nun von meiner inzwischen zur Gewissheit gewordenen familiären Herkunft. Mir lag aber nichts an einem familiären »Stempel«, weshalb ich ihn bat, einen Giur besuchen zu dürfen.

Die Zusammenkunft mit den drei Rabbinern lief eher wie ein Gespräch als eine Prüfung ab.

Es hat noch eine ganze Weile gedauert, bis der Rabbiner einen neuen Kurs angefangen hat. Da der Beginn in die Corona-Epidemie fiel, fand er zeitweilig online statt. Gemeinsam mit fünf anderen habe ich dann ein Jahr lang diesen Konvertierungskurs und am Schabbat die Gottesdienste in der Pestalozzistraße besucht. Vor dem Beit Din war ich ziemlich nervös, aber die Zusammenkunft mit den drei Rabbinern lief eher wie ein Gespräch als eine Prüfung ab.

Einer der Rabbiner machte sich die ganze Zeit Notizen. Schließlich entstand eine kleine Pause, und er sagte: »Willkommen im jüdischen Volk!« Da traten mir die Tränen in die Augen. Inzwischen denke ich ernsthaft darüber nach, Alija zu machen und meinen Lebensabend in Israel zu verbringen. Deshalb habe ich schon vor einiger Zeit angefangen, Hebräisch zu lernen. Die Tage im Schutzraum zwei Stockwerke unter Tel Aviv haben mich in diesem Plan eher noch bestärkt.

Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg

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