Porträt der Woche

»Anderssein ist schwierig«

»Meine jüdische identität hat für mich heute einen höheren Stellenwert als früher«: Rosa Jellinek (24) lebt in Berlin. Foto: Finnegan Godenschweger

Porträt der Woche

»Anderssein ist schwierig«

Rosa Jellinek über ihr Leben, ihre Hochbegabung und das angebliche »pink washing« Israels

von Gerhard Haase-Hindenberg  14.12.2021 11:07 Uhr

Mein Elternhaus war ein sehr offenes. Bei uns wurde immer viel diskutiert und ausgiebig über ganz unterschiedliche Dinge gesprochen. Das war in der Familie meiner Großmutter noch nicht so. Meine Oma lebte als Kind im Budapester Ghetto, ihr Vater wurde in Mauthausen ermordet. Anfang der 60er-Jahre ist sie dann in die DDR gekommen, wo meine Mutter ihre Kindheit verlebte.

Da meine Großmutter mit einer Angst wegen ihres Jüdischseins aufgewachsen ist, herrschte in ihrer Familie eine Sprachlosigkeit bezüglich der Schoa. Man wollte die Kinder schützen. So ist meine Mutter zwar nicht religiös, wohl aber in dem Bewusstsein aufgewachsen, eine Jüdin zu sein.

verfahren Mein Vater, der leider vor einigen Jahren starb, war schon 39 Jahre alt, als er meine Mutter kennenlernte. Als Allgemeinmediziner hatte er sich auf die Behandlung von nicht-wartezimmerfähigen Spritzdrogenabhängigen spezialisiert. Im Laufe der Jahre hat er in Berlin ein Verfahren etabliert, mit dem beispielsweise Heroinabhängige mit Methadon substituiert werden.

Meine Eltern haben viel darüber nachgedacht, was sie mir und meinen drei Geschwistern auf dem Weg ins Leben mitgeben wollen. Sie haben den Entschluss gefasst, uns eine positive jüdische Identität zu ermöglichen, die nicht von Angst geprägt ist, wie das in der Kindheit meiner Mutter noch der Fall war. Also wurde Schabbat gefeiert, und wir Kinder sind auf jüdische Schulen gegangen. Uns sollte ein Bewusstsein für die Herkunft vermittelt werden, aber unsere Eltern sagten auch immer: »Wenn ihr das Gefühl habt, ihr seid gar nicht religiös und es gibt keinen Gott, oder ihr wollt zum Islam konvertieren, dann könnt ihr das machen, wenn ihr das für richtig haltet.«

Meine Eltern wollten uns eine positive jüdische Identität vermitteln.

Man könnte also annehmen, dass ich eine unbeschwerte Kindheit gehabt hätte. Das aber war nur bedingt der Fall, was jedoch weniger etwas mit meinen Eltern zu tun hatte.

HOCHBEGABUNG Als Kind war es für mich schwer, Anschluss zu anderen Kindern zu finden. Ich habe mich von denen nicht verstanden gefühlt. Das hat dazu geführt, dass ich schon sehr früh depressiv wurde. Hinzu kamen Schulprobleme, die jedoch gänzlich andere waren als das, was man üblicherweise darunter versteht. Die vierte Grundschulklasse hatte ich übersprungen und war dementsprechend jünger als die anderen Kinder. Meine Eltern hatten damals einen IQ-Test bei mir machen lassen, weil es auffällig war, dass ich in der Schule so gar keine Anstrengung zeigte und es trotzdem sehr gut lief.

Es stellte sich dann eine Hochbegabung heraus, und ich denke, das hat zu den Differenzen mit den anderen Kindern geführt. Das mag arrogant klingen, aber es ist gar nicht arrogant gemeint. Es war vielleicht eine andere Art zu denken – und Anderssein kommt unter Kindern oft nicht gut an.

Mit meinen Eltern habe ich über all das nicht gesprochen. Das lag daran, dass sie ein sehr positives Bild von mir hatten, ich aber ein eher negatives Selbstbild hatte. Um sie nicht zu enttäuschen, konnte ich ihnen einfach nicht sagen, wie es mir ging. Dabei bin ich alles andere als eine Einzelgängerin, sondern eher ein sozialer und auch extrovertierter Mensch.

Ich habe mich danach gesehnt, Kontakt zu anderen Kindern zu haben. Es gab in meiner Schulzeit durchaus Freundinnen und Freunde, aber mein Anderssein hat immer auch zu Schwierigkeiten geführt.

INTERNAT Die Rettung aus dieser Situation fand in Meißen statt. Das dortige Sächsische Landesgymnasium Sankt Afra mit angeschlossenem Internat hatte sich auf die Förderung von Hochbegabten spezialisiert. In Meißen fühlte ich mich unter Gleichgesinnten, denen es in ihren Heimatstädten genauso ergangen war wie mir. Wir haben uns gut untereinander verstanden. Da gab es dann wieder andere Probleme.

In einem Internat, in dem 300 Schülerinnen und Schüler zusammenleben, existiert natürlich wenig Privatsphäre. Jeder und jede bekommen alles mit, und das führt gerade bei Pubertierenden zu viel Tratscherei. Außerdem gab es an dieser Schule für uns Hochbegabte einen enormen Leistungsdruck. Es ist mir im Laufe der Zeit oft schwergefallen, damit umzugehen.

Dennoch war die Zeit in Meißen für mich psychisch eine viel bessere als die vorher. In Berlin hatte ich mich an der Schule ziemlich gelangweilt, das war nun definitiv nicht mehr so. Wir haben schon sehr früh gelernt, wissenschaftlich zu arbeiten. So war ich später gut auf mein Lehramtsstudium in Philosophie und Geschichte vorbereitet, als ich an die Humboldt-Uni in Berlin kam.

IDENTITÄT Was mein Jüdischsein anging, so hätte ich damals in Meißen durchaus die Möglichkeit gehabt, es irgendwie zu leben. Aber natürlich habe ich mich mit 13 oder 14 Jahren da nicht alleine hingesetzt und Schabbat gefeiert.

Obgleich ich in der Synagoge Oranienburger Straße meine Batmizwa gefeiert habe, hatte die jüdische Identität für mich damals noch gar nicht diesen Stellenwert, den sie inzwischen hat.

Das Abitur habe ich dann aber nicht in Meißen gemacht. Nach der elften Klasse ging ich an ein Gymnasium in Berlin-Neukölln. Das ist bekanntlich ein Stadtbezirk, in dem viele muslimische Familien leben. Der Schulleiter sagte zu mir, er würde mir raten, mich nicht als Jüdin zu erkennen zu geben.

Ich habe weiterhin meinen Davidstern getragen und, wenn ich mich recht entsinne, keine einzige Erfahrung mit antisemitischen Äußerungen gemacht.

Aber ich habe mich nicht daran gehalten. Im Gegenteil. Ich habe weiterhin meinen Davidstern getragen und, wenn ich mich recht entsinne, keine einzige Erfahrung mit antisemitischen Äußerungen gemacht. Es gab höchstens mal ein Vorurteil, aber wenn ich dann darüber gesprochen habe, wurde das auch angenommen. Alles in allem waren die Begegnungen mit meinen muslimischen Klassenkameraden immer mit gegenseitiger Neugier verbunden, mit Offenheit und Nachfragen.

Nun stürzte ich mich ins Nachtleben, und ich habe Berlin als eine super tolerante, offene und vor allem queere Stadt erlebt. Mir war nämlich schon seit einer ganzen Weile klar, dass ich nicht heterosexuell bin und mich folglich nicht nur Männer oder männlich gelesene Personen interessieren. Das hat sich einfach so entwickelt.

Zum Glück hatte ich Eltern, die zu uns Kindern immer sagten: »Liebt, wen ihr wollt, Hauptsache, ihr seid glücklich.« Man muss allerdings auch zulassen können, dass jemand anderes einem Liebe gibt. Im Kontext einer Psychotherapie, die ich mit 20 Jahren begonnen hatte, habe ich das langsam erlernt.

JSUD Mit Beginn meines Studiums wurde ich in der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD) aktiv, wo ich mich im LGBTIQ*-Referat für queere Belange engagiert habe. Dann wurde in dieser Zeit die Organisation Keshet gegründet, und weil die damalige JSUD-Präsidentin Dalia Grinfeld eine der Mitbegründerinnen war, sah ich mich eines Tages mit elf anderen jungen Jüdinnen und Juden bei der Vereinsgründung zusammensitzen.

Das waren alles Leute, die keinen Widerspruch mehr zwischen dem jüdischen und einem queeren Leben für sich hinnehmen wollten. Ein innerer Widerspruch, der aufgrund meiner liberalen Erziehung für mich nie existiert hatte. Aber Keshet wirkt nicht nur in die Gemeinden hinein, sondern agiert auch öffentlich.

Es ist erstaunlich, dass es gerade in der queeren Szene einen israelbezogenen Antisemitismus gibt. Dort spricht man von »pink washing«, wonach Israel angeblich versuche, mit der Offenheit gegenüber queeren Menschen seine Politik in den palästinensischen Gebieten zu verstecken. So werden regelmäßig bei der Christopher-Street-Day-Parade entsprechende Flyer verteilt. Da ist noch sehr viel Aufklärungsarbeit nötig, sowohl als Internet-Präsenz als auch auf Veranstaltungen und Podiumsdiskussionen.

VORURTEILE Ich habe mittlerweile das Gefühl, dass das zu einer Art Schneeballsystem führt. Je mehr Menschen von uns hören und sich mit Keshet auseinandersetzen, umso mehr stellen sie die eigenen Vorurteile auf den Prüfstand. Die von Keshet organisierten Pride-Schabbatot in verschiedenen Synagogen mit Rabbinern und Rabbinerinnen haben einen enormen Zulauf.

Obgleich ich mich nicht als sehr religiös bezeichnen würde, macht das unglaubliche Hoffnung, dass in den jüdischen Gemeinden ein Umdenken bezüglich queer lebenden Juden erreicht werden kann. Mir jedenfalls ist es ein Bedürfnis, daran mitzuwirken. Dank meinem liberalen und offenen Elternhaus fühle ich mich dafür gut gerüstet.

Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg

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