Vielleicht sind es fünf Minuten, vielleicht weniger, die man braucht, um von der S-Bahn zu einem der beiden Ausgänge an der Station Düsseldorf-Wehrhahn hochzukommen. Eine lange, schmale Brücke, die kurz vor der Hälfte des Weges einen rechtwinkligen Knick macht, und dann noch einen, führt von den Gleisen zum Ausgang, einem kleinen Beton-Häuschen. An die Fassade sind Graffiti gesprüht, wenige Meter daneben – am Geländer der Brücke, auf der sich Ackerstraße und Gerresheimer Straße kreuzen – hängt eine Tafel.
Eine schlichte weiße Platte mit einem langen, gedrängten Text, der auf das hinweisen will, was hier vor 25 Jahren, am 27. Juli 2000 um 15.04 Uhr, geschah. »Gedenken an die Opfer rassistischer Gewalt am Wehrhahn« steht dort. Der erste Abschnitt lautet: »Es war ein heimtückischer, rassistisch und antisemitisch motivierter Anschlag auf zwölf Menschen, die aus Russland, der Ukraine, Aserbaidschan und Kasachstan nach Düsseldorf migriert waren«, ist zu lesen. »Zehn von ihnen wurden verletzt, einige lebensgefährlich, eine Frau verlor ihr ungeborenes Kind. Viele von ihnen wurden traumatisiert und leiden unter den Folgen des Anschlags. Sie kamen gerade von ihrer Sprachschule. Der oder die Täter hatte(n) sie gezielt ausgesucht.«
Die Eilmeldungen von Nachrichtenagenturen liefen an jenem Tag kurz vor 16 Uhr ein. Wann genau Michael Szentei-Heise damals von dem Anschlag erfuhr, kann er heute, 25 Jahre später, nicht mehr genau sagen. Es muss allerdings schon sehr, sehr schnell gewesen sein, erzählt der Rechtsanwalt und damalige Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf im Gespräch wenige Tage vor dem Gedenken. Das Entsetzen, die Schwere der Tat von damals ist noch in der langen Pause zu merken, die Szentei-Heise macht, bevor er sagt: »Das war ein Schock. Vor allem auch, weil es wirklich lange gedauert hat, bis man überhaupt irgendeine Richtung, aus der dieser Anschlag kam, festmachen konnte. Diese Ungewissheit war schon ziemlich belastend damals.«
»Die Ungewissheit damals war ziemlich belastend.«
Michael Szentei-Heise
Ungewissheit damals, Ohnmacht und Sprachlosigkeit heute. Viele möchten und können nichts mehr sagen, nach 25 Jahren emotionalem Auf und Ab. Ihnen fehlt die Kraft dazu, Frust und Enttäuschung über den Ausgang des Prozesses. Das Thema ist, weil es auf so unterschiedlichen Ebenen nach so vielen Jahren immer noch wehtut, für viele zumindest oberflächlich abgeschlossen – und eigentlich auch wieder nicht.
Die Frauen und Männer, die bei dem Anschlag durch eine Rohrbombe teils schwer verletzt wurden, waren am 27. Juli 2000 auf dem Rückweg von ihrem Deutschkurs. Sie kamen am S-Bahnhof Wehrhahn an, gingen den kleinen Teil der Überführung entlang, bogen dann in den langen und schmalen Weg hoch zum Ausgang Ackerstraße ab. Die Rohrbombe war in einer Plastiktüte versteckt, die am Geländer befestigt war.
Sie verursachte Verletzungen, die Ekaterina Pyzova, eine der Schwerverletzten aus der Gruppe, so beschreibt: »Ich bin nur nicht verstorben, weil meine Mitschülerin Krankenschwester war. Sie hat mir die Arterien zusammengedrückt, weil das Blut nur so rausschoss.« Pyzova – heute 74 Jahre alt – schildert diesen Moment in dem Buch Und damit kam die Angst …. Der rechtsterroristische Anschlag am S-Bahnhof Düsseldorf-Wehrhahn, das dieser Tage erschienen ist. Herausgegeben wurde es von Sabine Reimann und Fabian Virchow, und es ist das schonungslose Dokumentieren eines Anschlags und dessen Spätfolgen.
Auch Galina Veksler und ihre Tochter Katja Kuklinski werden darin interviewt.
Veksler saß am 27. Juli 2000 noch im Sprachkurs in Düsseldorf und hörte die Explosion. In einem eindringlichen Gespräch schildert sie die Zeit nach dem Anschlag. Das Gefühl zwischen Zufälligkeit, Befragung, allgemeinem Mutmaßen darüber, was eigentlich passiert war, und das langsame Bewusstwerden, dass es sich bei dem Anschlag um eine Tat mit antisemitischem Hintergrund gehandelt haben muss. »Man musste nicht sehr begabt sein, um zu recherchieren, dass in dieser Schule die meisten Kontingentflüchtlinge saßen und ganz wenige Spätaussiedler«, sagt Veksler. Besonders beschäftigt hat sie die junge Schwangere, deren ungeborenes Kind durch einen Splitter der Bombe getötet wurde. Die Familie, die nach Deutschland gekommen war, um sich in Sicherheit ein neues Leben aufzubauen, wurde Opfer des Anschlags.
»Ich bin nur nicht verstorben, weil meine Mitschülerin Krankenschwester war.«
Ekaterina Pyzova
»Sie waren sehr jung, etwas ruhig, zurückhaltend – vielleicht zu Beginn auch durch die sprachliche Barriere. Sie waren sehr anständige, seriöse junge Leute«, blickt Ruth Rubinstein, die heute Ehrenvorsitzende der Jüdischen Gemeinde ist, auf die Frauen und Männer der Sprachschülergruppe zurück, die damals auch in der jüdischen Gemeinde waren. »In der langen Zeit nach dem Anschlag waren sie dann weg, man hat nichts mehr von ihnen gehört, nichts mehr von ihnen gesehen. Ich dachte: Gerade jetzt brauchen die Leute unsere Unterstützung – und wenn es nur menschliche Unterstützung gewesen wäre.« – Rubinstein kann nur vermuten, woran es gelegen haben könnte.
Die Betreuung durch die Gemeinde war sehr engmaschig, bedarfsorientiert, beschreibt Szentei-Heise. Krankenhausbesuche oder das Besorgen von einfachen Dingen – je nachdem, welchen Bedarf es gab – hätten im Mittelpunkt gestanden. »Das Primäre für uns war die Betreuung der Opfer«, sagt Michael Szentei-Heise. »Wir hatten eine sehr gut funktionierende Sozialabteilung mit der Leiterin Vera Steyvers. Sie hat sich wirklich vorbildlich um die Opfer gekümmert.«
Auch Szentei-Heise erinnert sich an die junge Frau und ihren Mann: »Beide sind von der Gemeinde sehr, sehr eng betreut worden – im Krankenhaus und auch später, nachdem sie das Krankenhaus verlassen konnten.« Doch irgendwann sei der Kontakt eingeschlafen, manche Lebenswege hätten sich getrennt.
»Ob heute noch jemand von dem Anschlag weiß?« Ruth Rubinstein
Es gab einen kurzen gesellschaftlichen Aufschrei nach dem Anschlag. Politiker äußerten sich, es gab Initiativen, die Geld sammelten, der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) forderte einen »Aufstand der Anständigen«. Und wie blickt Szentei-Heise heute darauf zurück? »Dafür habe ich ein ironisches Lachen übrig, offen gesagt. Denn wenn wir sehen, wie sich die Situation seitdem entwickelt hat, ist es natürlich hanebüchen. Einen Aufstand der Anständigen hat es nicht gegeben – und wird es in Deutschland nicht geben. In Deutschland kann man einen Aufstand nur anzetteln, indem man die Bierpreise über Nacht um 500 Prozent erhöht. Für Juden gibt es in Deutschland sowieso keine Aufstände.«
20 Jahre später, im Juli 2020, veranstaltete die Stadt Düsseldorf ein erstes Gedenken. Ruth Rubinstein und ihr Mann Herbert waren mit dabei. »Es ist gut, dass mit einer Gedenkplatte daran erinnert wird, aber das Erinnern hat in der Gesellschaft nicht den Stellenwert gehabt, den es normalerweise hätte haben müssen, nachdem so ein furchtbarer Anschlag mitten in der Stadt erfolgt war«, sagt Herbert Rubinstein. Seine Frau fragt sich, »ob jemand von dem Anschlag wüsste, wenn man mal Menschen auf der Brücke ansprechen würde. Dort ist immer viel los, ob da überhaupt jemand auf das kleine Denkmal achten würde? Vielleicht würde das für viele eher unter ferner liefen laufen.«
Die kleine weiße Gedenkplatte hängt noch am Gitter mitten auf der Brücke. Passanten können an ihr vorbeilaufen, sie könnten auch stehen bleiben. In diesem schmalen grauen, offenen Gang, der einen Schutz hat, damit Menschen nicht über das Geländer fallen, befindet sich eine weitere Erinnerung an den Tag: eine DIN-A4-große schwarze Gedenkplatte, genau an der Stelle, wo die Rohrbombe explodierte. In das Erinnerungszeichen sind Splitter gestanzt, einer auch für das ungeborene Kind.
Manchmal wird die Platte beklebt, erzählt Annette Klinke, Ratsfrau der Landeshauptstadt Düsseldorf und Bezirksbürgermeisterin des Bezirks 1, die sich Ende der Woche, kurz vor dem Gedenken zum 25. Jahrestag, mit dem Rad zum S-Bahnhof Wehrhahn aufmachen möchte. Das Zeichen der Erinnerung soll geputzt werden, am Wochenende sind viele Gedenkveranstaltungen geplant. Die schwarze, löchrige Platte soll sichtbar sein, um endlich von allen gesehen zu werden.