Talmudisches

Wunder in der Gegenwart

Rabbi Jochanan betrachtet das Zueinanderfinden von Braut und Bräutigam als ein Wunder. Foto: Chris Hartung

Unsere Weisen lehrten, dass man sich nicht auf Wunder verlassen darf: »Rabbi Jannai sagte: Nie darf jemand an einem Ort der Gefahr verweilen und dabei annehmen, man werde ihm ein Wunder erweisen. Vielleicht wird man ihm kein Wunder erweisen, und falls doch, so wird man es ihm von seinen Verdiensten abziehen« (Schabbat 32a).

Dass Wunder heute ebenso wie zur Zeit der Tora vorkommen, ist allerdings den Rabbinen so selbstverständlich, dass die Verfasser der Amida, des Achtzehnbittengebets, einen Dank für die »zu jeder Zeit waltenden Wunder« formuliert haben. Diese Passage in der Liturgie erinnert die Beter jeden Tag dreimal daran, dass der Ewige Wunder bewirkt. Wie Nachmanides, der Ramban, in seinem Kommentar zur Tora (1. Buch Mose 17,1) ausführt, sind Gottes Wunder oft verborgen.

Eheschließungen Wo kommen Wunder heute vor? Nach Ansicht der Weisen zum Beispiel bei Eheschließungen. Das beweist folgendes Zitat aus dem Talmud (Sota 2a): »Rabbi Schmuel Ben Jizhak sagte: Wenn Resch Lakisch den Traktat Sota begann, sprach er: Einem Mann gesellt man eine Frau zu, und zwar nach Gebühr seiner Taten. Denn es heißt: ›Denn das Zepter des Gottlosen wird über dem Los der Gerechten nicht ruhen‹ (Psalm 125,3). Rabba Bar Bar Channa sagte im Namen von Rabbi Jochanan: Und ihre Paarung ist so schwierig wie die Spaltung des Schilfmeers, denn es heißt: ›Gott bringt die Einsamen heim, er führt die Gefesselten ins Freie‹ (Psalm 68,7)«.

Der Amoräer Rabbi Jochanan betrachtet also das Zueinanderfinden von Braut und Bräutigam als ein Wunder. Sein Vergleich mit der Spaltung des Schilfmeers bedarf einer Erklärung. Wieso gab es bei dieser in der Tora im Wochenabschnitt Beschalach (2. Buch Mose 14) geschilderten Episode eine Schwierigkeit?

Schilfmeer Auf eine manchmal bei Betrachtung des Geschehens am Schilfmeer übersehene Tatsache hat der Ramban (in seinem Kommentar zum 2. Buch Mose 14,4) aufmerksam gemacht: Ist es nicht erstaunlich, dass die Ägypter nach ihren Erfahrungen mit den Zehn Plagen das gespaltene Meer betreten? Eine solche Torheit zu begehen, zeige den Einfluss des Ewigen bei der Entscheidung der Verfolger, die dann zu ihrem Untergang führte, so der Ramban.

In gleicher Weise können wir uns die Mitwirkung Gottes bei der Bildung eines Paares vorstellen. Gewiss haben Braut und Bräutigam die freie Wahl – und doch sorgt der Ewige irgendwie dafür, dass die Ehepartner zueinanderpassen (»nach Gebühr seiner Taten«).

Im Talmud (Pessachim 118a) finden wir einen weiteren Lebensbereich, der mit der Spaltung des Schilfmeers verglichen wird: »Rabbi Schezvi sagte im Namen von Rabbi Elazar Ben Azarja: Der Erwerb des Menschen ist so schwierig wie die Spaltung des Schilfmeers, denn es steht geschrieben: ›der allem Fleisch Nahrung gibt‹ (Psalm 136,25), und einige Verse davor heißt es: ›der das Schilfmeer zu Teilen sondert‹ (136,13)«.

Der Raschbam, Rabbi Schmuel Ben Meir, bemerkt in seinem Kommentar zu dieser Stelle, das Gewähren des Unterhalts sei ein großes Wunder, für das man beten soll. In der Tat bitten jüdische Männer und Frauen im bereits erwähnten Amida-Gebet unter anderem auch für den Lebensunterhalt.

Berufsleben Es drängt sich die Frage auf, wo im Berufsleben der Menschen Platz ist für ein großes Wunder. Was oben über Gottes Mitwirken bei der Partnerfindung gesagt wurde, hilft uns zu begreifen, dass wir den Erfolg bei unserer Arbeit letzten Endes Gottes Beistand verdanken. Die Tora lehrt, dass man nicht sagen darf: »Meine Kraft und die Stärke meiner Hand haben mir dieses Vermögen geschafft.« Vielmehr gilt: »Bleibe eingedenk des Ewigen, deines Gottes; denn er ist es, der dir Kraft gibt, Vermögen zu schaffen« (5. Buch Mose 8, 17–18).

Gottes ständige Hilfe bei unseren Unternehmungen erscheint vielen Menschen selbstverständlich und bleibt daher unbemerkt. In Wirklichkeit aber erfahren wir täglich Wunder, die wir im Gebet dankbar anerkennen sollten.

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