Tischa Beaw

Nicht ohne den Messias

Der Zweite Tempel: Modell im Maßstab 50:1 im Jerusalemer Israel-Museum Foto: Thinkstock

Durch die Sünde des Blutvergießens wird der Tempel zerstört, und die Schechina – die g’ttliche Präsenz in der Welt – zieht sich aus Israel zurück» (Talmud, Schabbat 33a). In diesem und anderen Aussprüchen haben unsere Weisen den Grund für die Zerstörung beider Jerusalemer Tempel angegeben. Die Vergehen des jüdischen Volkes, die sich in der Zeit des Zweiten Tempels vor allem in «Sinat Chinam» äußerten, dem sinnlosen Hass gegeneinander, führten zu Handgreiflichkeiten vonseiten der Zeloten, Morden unter den verschiedenen Sekten und schließlich auch zum Aufstand gegen Rom.

In der Folge richtete sich das Schwert gegen den Sitz der Schechina, und das Haus G’ttes wurde vernichtet. An diese Katastrophe erinnern wir uns zu Tischa beAw und in den diesem Fastentag vorausgehenden drei Wochen: «Einem Feind gleich wurde der Ewige, Er vertilgte Jisrael (...), Seinen Altar verwarf Er, Seinen Tempel lehnte Er ab, die Palastmauern übergab Er den Händen der Feinde» (Echa 2).

Doch fällt es vielen Juden der Moderne gar nicht so leicht, um diesen Verlust aufrichtig zu trauern. Mit dem Heiligtum werden vor allem blutige Tieropfer assoziiert, denen die meisten heute eher skeptisch gegenüberstehen. Die Tradition bereichert uns jedoch mit ihrem Wissen darüber, dass unsere Trauer ihren Anlass weniger im Ende des Opferdienstes findet, als vielmehr im Rückzug der Schechina.

Denn obwohl die Awoda, der Tempeldienst, eines der Fundamente des menschlichen Lebens war (Awot 1,2), findet ihr vorzeitiges Ausbleiben einen vollständigen Ersatz in den anderen beiden Säulen unserer Ethik: dem Torastudium und der Mitmenschlichkeit (Awot deRabbi Nathan 4,5). Der Rückzug der g’ttlichen Gegenwart aus unserer Mitte ist dagegen von anhaltend tragischer Bedeutung.

Schöpfung «Ich liebe euch, spricht der Ewige» (Malachi 1) – das ist die Grundlage der Tora. Mosche und die späteren Propheten benutzen mannigfaltige Bilder, um Israels besonderes Verhältnis zu G’tt zu charakterisieren. So werden die Juden etwa Seine Kinder und Seine Erstgeborenen genannt; nicht jedoch, um sich in Hochmut zu ergehen, sondern um ein Quell der G’ttes- und Moralerkenntnis unter den Völkern zu sein. Aus diesem Grund plante G’tt bereits bei der Schöpfung später ein Heiligtum zu errichten, auf dass, wie es der Midrasch ausdrückt, Seine Schechina unter uns weilen und eine «Wohnung» in der physischen Welt beziehen möge.

Das Volk Israel wiederum ist aufgefordert, diese Liebe zu erwidern, auf G’ttes Wegen zu wandeln, Ihm zu folgen und somit auch zum Tempel zu wandern, um uns vor Ihm «zu freuen, am Ort, den Er erwählen wird, um Seinen Namen dort wohnen zu lassen» (5. Buch Mose 16). Hält sich Israel jedoch nicht an die Vorgaben der Tora und der Humanität, zieht sich die Schechina zurück.

Durch die Zerstörung des Heiligtums wurde diese Möglichkeit der immanenten G’ttesnähe genommen, wodurch wir in einem gewissen Sinne «Waisen geworden sind – vaterlos» (Echa 5). Wie der Midrasch (Pirkei deRabbi Elieser 30) lehrt, errichteten die Kinder Jischmaels, nachdem das Land Israel im 7. Jahrhundert n.d.Z. in ihre Hände fiel, ein Gebäude auf den Ruinen des Tempels – den Felsendom. Dadurch wurde das Ende des Tempels vorerst besiegelt. Doch die Überlieferung unserer Weisen und Israels tägliche Bitten um G’ttes Rückkehr nach Zion, etwa in der Amida, sind Zeugen der Hoffnung, dass der Messias kommen, das jüdische Volk sammeln und den Tempel wieder erbauen werde.

DRITTER TEMPEL Im modernen Staat Israel äußert sich der an sich berechtigte und traditionsgestützte Glaube an den sogenannten Dritten Tempel gelegentlich in Bestrebungen von Extremisten, die muslimische Moschee niederzureißen und eine Tempelstruktur auf dem Berg Morija zu errichten.

Der Großteil der Poskim, der Halacha-Entscheider, ist sich jedoch darin einig, dass allein der Messias den Dritten Tempel errichten kann. Ohne ihn kann kein Schritt getan werden. Dies liegt unter anderem daran, dass wir die genauen Maße und das durch den Propheten Jecheskel vorgegebene Aussehen dieses Tempels nicht halachakonform bestimmen können. Auch ist unsere kultische Unreinheit, die in Abwesenheit des Tempels gilt, ein Hindernis, sodass uns heutzutage nach dem Gesetz der Tora womöglich sogar der Zutritt zum Tempelberg untersagt ist. Ebenso sind sich die Poskim unsicher in Bezug auf die makellose aharonidische Abstammung der heutigen Kohanim. Letztendlich gibt es auch noch den Streit, ob der Dritte Tempel überhaupt von Menschen erbaut wird oder ob er fertig vom Himmel herabsteigt.

Der theologische Hauptpunkt sollte jedoch ein anderer sein: Sogar wenn der Tempel nach allen halachischen Vorgaben errichtet werden könnte, wäre unsere Generation nicht in der Lage, die Schechina zu zwingen, sich dort niederzulassen. Ein Gebäude lässt sich zwar errichten, doch die Wolkensäule, die die Einweihung des Mischkans und des Ersten Tempels begleitete, oder die Visionen der Propheten, die den Bau des Zweiten unterstützten, können nicht gegen den Willen des Himmels herbeigezwungen werden.

Der Dritte Tempel wird, so der Maharal aus Prag, die Verbindung zwischen der oberen Welt der Engel und unserer irdischen sein (Nezach Jisrael 52). Die Fülle des über ihn vermittelten Segens wird die Ära einleiten, die zur Wiedervereinigung der seit Babylon (1. Buch Moses 11) in Völker zersplitterten Menschheit führen wird, sodass sie «Mir zum Volk werden» (Sechar- ja 2,15). Dies kann jedoch nur der zukünftige Messias vollbringen.

Entsprechend berichtet die nichtjüdische antike Geschichtsschreibung von dem Versuch des judenfreundlichen Kaisers Julian (4. Jh. n.d.Z.), den Tempel in Jerusalem wiederzuerrichten. Doch seine Arbeiter sollen beim Beginn ihres Werkes durch Flammenstöße gehindert worden sein, die dem Boden entspringend den Bau vereitelten.

KÖNIG Was aber ist nun der von der Tora vorgegebene Rahmen für den Bau des zukünftigen Heiligtums? Der Rambam lehrt uns, dass Israel bei der ursprünglichen Eroberung des Landes Kenaan drei Mizwot zu erfüllen hatte (Hilchot Melachim 1). Eine davon war die Ernennung eines Königs durch einen Propheten. Dieser sollte dann im Anschluss den Krieg gegen das Volk Amalek, den Verkörperer des «sinnlosen Hasses», führen und den Tempel errichten. Erfüllt wurde dies durch den Propheten Schmuel, der Schaul und David nacheinander zu Königen salbte, die je eine der beiden verbleibenden Mizwot einhielten.

Auch bei der Errichtung des Mischkans während der Wüstenwanderung wurde ein ähnliches Schema eingehalten: Mosche wurde von G’tt zum Propheten und Volksanführer bestimmt, wodurch er nach einer klassischen Auslegung auch zum «König in Jeschurun» (5. Buch Mose 33) wurde. Später führte er den ersten Krieg gegen Amalek und ließ das Stiftszelt bauen, in dem die Schechina sich niederließ.

Beim Bau des Zweiten Tempels wiederum verkündeten die Propheten Chaggai und Secharja, dass Serubawel, ein Nachkomme Davids und Schlomos, das Heiligtum bauen sollte und, obgleich nicht selbst König, aus seiner Nachkommenschaft einst der Messias hervorgehen würde (Chaggai 2). Fast zeitgleich bewirkten Mordechai und Esther vom Königsgeschlechts Schauls den Untergang des letzten Rests der Amalekiter, nämlich Hamans und seiner zehn Söhne.

Beim Dritten Tempel wird es sich laut unserer Tradition kaum anders verhalten. Der Messias, selbst König und Sohn der davidischen Könige, wird mit Hilfe des wiederkehrenden Propheten Elijahu den Krieg gegen den antimessianischen Fürsten Gog und dessen Heerscharen führen sowie das dritte Heiligtum einweihen.

TIEROPFER In den ersten beiden Tempeln wurden gemäß den Geboten der Tora Tieropfer dargebracht, die eine Art symbolischen Unterhalt für die Schechina darstellten. Unsere innere Annäherung an den auf Erden weilenden G’ttesgeist wird der Äußerlichkeit des Heiligtums entsprechend durch äußere Kulthandlungen wiedergegeben.

Die genauen Vorgaben und Opferarten sowie die Beschaffenheit der Tempelgeräte und ihres Dienstes waren dabei – wie der Rambam lehrt – durchaus der spirituellen Stufe des jüdischen Volkes in der damaligen Zeit angepasst und wiesen daher eine allgemeine Ähnlichkeit mit Opferriten anderer Nationen auf. Dennoch sind die g’ttlichen Mizwot bezüglich der Opfer voll tiefer Bedeutungsebenen und verborgener Symboliken, um deren Herausarbeitung sich die Gelehrten des Mittelalters im Besonderen bemüht haben.

G’tt selbst bedarf dieser Altargeschenke für Sein perfektes Wesen freilich nicht. So spricht Er: «Wäre Ich hungrig, müsste Ich es dir nicht mitteilen, denn Mein ist die Erde und ihre Fülle. Esse Ich etwa Stierfleisch? Trinke Ich denn das Blut der Böcke?» (Psalm 50,12-13).

Obgleich die Tradition bekennt, dass zur Zeit des Dritten Tempels wieder Opfer dargebracht werden, ist es möglich, dass diese in ihrer Art von ihren antiken Vorgängern abweichen. Der Prophet Jecheskel etwa nahm in seiner visionären Schau des zukünftigen Heiligtums verschiedene kleinere Änderungen in den Riten wahr. Unsere Weisen lehrten weiter, dass in Zukunft alle Opfer bis auf das Dankopfer annuliert würden (Wajikra Rabba, Zaw 9,7).

TEMPELDIENST In der Moderne hat sich von den großen Gelehrten zuletzt Rabbiner Awraham Jizchak haKohen Kook mit dem Wesen des endzeitlichen Tempeldienstes befasst. Sich auf die rabbinische Überlieferung und das kabbalistische Wissen der früheren Generationen stützend, lehrt er uns das Folgende: Solange die Menschheit nicht zum Vegetarismus der Urzeit (1. Buch Mose 1,29) zurückgekehrt ist, gibt es auch Raum für Tieropfer.

Doch wenn Israel und die Völker sich dahingehend ändern, dass sie das ursprünglich von G’tt angedachte Ideal des Fleischverzichts in der Endzeit erreichen, werden auch die fleischlichen Opfer ein Ende nehmen. Der Tempeldienst, so Raw Kook, wird schließlich allein mit pflanzlichen Mincha-Opfern durchgeführt werden. Dann wird das Haus G’ttes ein «Haus des Gebetes für alle Nationen» genannt werden (Jesaja 56,7), wie wir in der Haftara zu den Fastentagen lesen.

Und anderswo erläutert der Prophet: «Und viele Völker werden gehen und sagen: Kommt, lasst uns zum Berg des Ewigen, zum Haus des G’ttes Jaakows hinaufsteigen, auf dass Er uns von Seinen Wegen lehre und wir Seine Pfade beschreiten. Denn von Zion wird die Tora ausgehen und das Wort des Ewigen aus Jerusalem» (Jesaja 2).

Der Autor studiert Jüdische Theologie an der Universität Potsdam.

Essay

Die gestohlene Zeit

Der Krieg zerstört nicht nur Leben, sondern auch die Möglichkeit, die Zukunft zu planen, schreibt der Autor Benjamin Balint aus Jerusalem anlässlich des Feiertags Simchat Tora

von Benjamin Balint  23.10.2024

Bereschit

Höhen und Tiefen

Sowohl Gut als auch Böse wohnen der Schöpfung inne und lehren uns, verantwortlich zu handeln

von Rabbinerin Yael Deusel  23.10.2024

Simchat Tora

Untrennbar verwoben

Können wir den Feiertag, an dem das Massaker begann, freudig begehen? Wir sollten sogar, meint der Autor

von Alfred Bodenheimer  23.10.2024

Deutschland

Sukkot in der Fußgängerzone

Wer am Sonntag durch die Bonner Fußgängerzone lief, sah auf einem zentralen Platz eine Laubhütte. Juden feiern derzeit Sukkot auch erstmals öffentlich in der Stadt - unter Polizeischutz

von Leticia Witte  20.10.2024

Laubhüte

Im Schatten Seiner Flügel

Für die jüdischen Mystiker ist die Sukka der ideale Ort, um das Urvertrauen in Gʼtt zu stärken

von Vyacheslav Dobrovych  16.10.2024

Freude

Provisorische Behausung

Drei Wände und ein Dach aus Zweigen – selbst eng gedrängt in einer zugigen Laubhütte kommt an Sukkot feierliche Stimmung auf

von Daniel Neumann  16.10.2024

Chol Hamoed

Körperlich herausfordernd

Warum das Buch so gut zu Sukkot und seinen Mizwot passt

von Rabbiner Joel Berger  16.10.2024

Talmudisches

Gericht und Reue

Was unsere Weisen über das Fasten an Jom Kippur und die Sünden zwischen den Menschen lehrten

von Vyacheslav Dobrovych  15.10.2024

Berlin

Zu Besuch in Deutschlands einzigem koscheren Hotel

Ilan Oraizers King David Garden Hotel ist ein Unikum in der Bundesrepublik

von Nina Schmedding  13.10.2024