Pro – Lea Wohl von Haselberg: »Auch Kinder jüdischer Väter sollen auf Machanot fahren dürfen.«
Was macht es aus, jüdisch zu sein – und wer ist jüdisch? Diese alten Fragen haben neue Aktualität bekommen, auch durch die hohe und weiter zunehmende Anzahl von exogamen Ehen. Wenn in diesen Partnerschaften der Vater und nicht die Mutter jüdisch ist, werden Kinder geboren, die halachisch nicht als jüdisch anerkannt werden. Das führt zu Problemen für die jüdischen Gemeinden in Deutschland, deren Mitgliederzahl 2016 erstmals unter 100.000 gesunken ist, wie auch für die Vaterjüdinnen und Vaterjuden, die oft Ausschlüsse und Ablehnung in jüdischen Institutionen erleben.
Lange fanden die Sichtweisen und Wünsche dieser Menschen kein oder wenig Gehör. Doch inzwischen scheint das Thema Patrilinearität auf die Agenda jüdischer Institutionen gelangt zu sein. Das öffentliche Gespräch in Deutschland kommt in Gang. Wichtigen Anteil daran haben wissenschaftliche Forschungen wie etwa von Julia Bernstein, Madeleine Dreyfus und Ruth Zeifert, aber auch Debattenbeiträge wie das Buch Wer ist Jude? des 2012 verstorbenen Bamberger Gemeindevorsitzenden Heinrich Olmer. Verkürzt lautet die Frage: Wie umgehen mit den Vaterjüdinnen und Vaterjuden?
Die Antworten fallen unterschiedlich aus. Nicht nur sind individuelle Haltungen vielfältig, sondern es vermischen sich unterschiedliche Fragen, die nicht nur, aber besonders in Deutschland untrennbar verwoben scheinen: »Judesein« als Zugehörigkeit zur jüdischen Religionsgemeinschaft, jüdische Identität als subjektives Selbstverständnis, jüdisches Leben als eine wie auch immer geartete alltagsweltliche jüdische Praxis oder Tradition, jüdische Familie und Geschichte als ein Aspekt von Herkunft, Betroffenheit der Familie durch die Schoa und eigene Antisemitismuserfahrungen sowie die besondere Beziehung zum jüdischen Staat und zur deutschen Geschichte. Die Frage nach dem Umgang mit Patrilinearen simpel mit der Halacha zu beantworten, wird dieser Vielschichtigkeit nicht gerecht.
Die Landesverbände der jüdischen Gemeinden sind Körperschaften des öffentlichen Rechts. Entsprechend häufig wird das Argument vorgebracht, dass sie wie alle Vereine ihre Beitrittsregeln bestimmen dürfen, die in diesem Fall schlicht lauten: jüdische Mutter oder Giur. Das ist richtig, wenn auch anzumerken ist, dass sie sich damit an ihren Statuten und Regeln auch messen lassen müssen. Selbst wenn die wenigsten Jüdinnen und Juden ihr Jüdischsein auf die bloße Religiosität reduzieren würden, ist dennoch die Frage berechtigt, was vom Judentum jenseits der Religion bleibt. Hat man den Fortbestand des Judentums im Blick, kann die Antwort nur lauten, dass es wohl eher durch gelebte Tradition, durch Wissen um Religion und Geschichte, durch vitale jüdische Identität als durch die Verhinderung exogamer Ehen gesichert werden kann. Ein größeres religiöses Wissen ist also erstrebenswert – hier nicht synonym mit einem strengeren Beachten der Ge- und Verbote verstanden. Alle Studien zeigen, dass Menschen mit jüdischem Vater sich durchaus mit dem Judentum identifizieren, sich ihrer Geschichte bewusst sind, sensibel auf Antisemitismus reagieren und besondere Beziehungen zu Israel haben. Jüdisches wird in ihren Familien tradiert.
Viele von ihnen definieren sich als jüdisch. Solange ihnen aber der Zugang zu den Gemeinden verwehrt oder erschwert wird, wird das Wissen über Religion und Tradition Mangelware bleiben. (Ein Defizit, das bei Weitem nicht nur Patrilineare betrifft.) Die Frage ist weniger, ob sie ohne Giur als vollständige Gemeindemitglieder aufgenommen werden oder nicht, sondern vielmehr, ob sie als Menschen mit ihren Familien willkommen sind. Wahrscheinlich würden mehr von ihnen den Schritt eines formalen Übertritts gehen, wenn ihr Jüdischsein nicht in Abrede gestellt würde. Genau das passiert aber immer wieder – eine Ausgrenzungserfahrung, die erhebliches Leid verursachen kann, gerade bei Kindern.
Betrachtet man die Geschichte, stellt man entgegen verbreiteter Meinungen fest, dass das Matrilinearitätsprinzip nicht schon immer im Judentum galt. Es entstand wahrscheinlich zur Zeit Esras aus den Erfordernissen der damaligen Zeit. Sich nun an der heutigen Zeit zu orientieren, würde dieser Tradition entsprechen. Nicht zuletzt, weil in vielen ehemals kommunistischen Ländern die jüdische Nationalität über den Vater »vererbt« wurde – und in Ländern mit größeren liberalen Gemeinden ein anderer Umgang mit Patrilinearen gepflegt wird.
Wir müssen nicht über die Änderung, sondern über die Anwendung der Halacha im Alltag nachdenken. Dabei ist eine innere Haltung vielleicht bedeutender als der religionsgesetzliche Rahmen. Exogamie lässt sich nicht verhindern. Das ist keine steile These, sondern schlicht Realitätssinn. Jüdinnen und Juden sind inszenierte Partnerbörsen leid. Sie verlieben sich, wo sie wollen, und manchmal wider Willen. Es bleibt also, die Türen zu öffnen und gemeinsam mit den Familien Lösungen zu finden, die den Situationen entsprechen: etwa einen Übertritt zu vollziehen, den ein altes Gesetz verlangt, aber auch, die Machanot der ZWST für Kinder jüdischer Väter zu öffnen und der verächtlichen Behandlung von Vaterjüdinnen – wie übrigens auch von Konvertiten und »gemischten« Ehepaaren – entschlossen entgegenzutreten. Bis dahin ist es, wie Heinrich Heine schrieb, eine alte Geschichte, die demjenigen, dem sie just passiert, das Herz entzweibricht.
Lea Wohl von Haselberg ist Medienwissenschaftlerin und Mitherausgeberin der Zeitschrift »Jalta. Positionen zur jüdischen Gegenwart«. Sie forscht und schreibt zu deutsch-jüdischen Themen.
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Contra – Rabbiner Arie Folger: »Die Gemeinden sollen jüdische Ehen fördern, statt Nichtjuden aufzunehmen«
Eine Voraussetzung für die Mitgliedschaft in jüdischen Gemeinden ist, dass die Antragsteller jüdisch sind. Nicht nur in traditionellen jüdischen Gemeinden, zu denen sowohl orthodoxe als auch Einheitsgemeinden zählen, sondern auch in den liberalen oder Masorti/Conservative-geprägten Gemeinden Deutschlands gilt als Jude, wer von einer jüdischen Mutter geboren oder in einem von der Gemeinde anerkannten Übertritt zum Judentum konvertiert ist.
Will man also die Frage klären, ob Menschen mit jüdischem Vater, Menschen jüdischer Herkunft, die laut Religionsgesetz nicht als jüdisch gelten, für eine Mitgliedschaft in einer jüdischen Gemeinde in Betracht kommen, dann kann man die Frage aus zwei Blickwinkeln betrachten: Warum gilt dieser Mensch nicht als jüdisch, und wieso nimmt eine jüdische Gemeinde grundsätzlich nur Juden als Mitglieder auf?
Wer ist Jude? Immer wieder liest oder hört man, dass es nicht immer so war, dass nur solche Kinder als jüdisch gelten, die von einer jüdischen Mutter geboren wurden. So schrieb auch Annette M. Boeckler am 3. Mai 2013 in der Jüdischen Allgemeinen: »In der Tora – wie auch in allen anderen Teilen der Bibel sowie in den nachbiblischen Schriften bis ins 2. Jahrhundert hinein – wird die Zugehörigkeit zum Volk Israel über die väterliche Abstammungslinie definiert.«
Diese Behauptung ist meiner Ansicht nach nicht wissenschaftlich und erst recht nicht religionsgesetzlich zu belegen. Boeckler selbst dokumentiert mehrere Quellen aus der Mischna und dem Tanach, der Hebräischen Bibel, aus denen das Matrilinearitätsprinzip klar zu entnehmen ist. Der Tanach erzählt 1500 Jahre Geschichte und 613 Ge- und Verbote in lediglich 304.901 Wörtern, sodass nicht erwartet werden kann, dass jedes Thema im Detail ausgelegt wird. Dass dennoch so viele Stellen auf die Matrilinearität hinweisen, unterstreicht deren Bedeutung. Die deutlichsten Stellen sind Esra 9–10, wo Kinder nichtjüdischer Frauen ausdrücklich wie ihre Mütter betrachtet werden, und Nechemia 10,31 und 13, 23–31, wo besonders betont wird, dass die Kinder solcher Ehen als »nejchar«, also als nichtjüdisch gelten. Malachi 2, 10–16 bezeichnet die zweite Ehe zu einer nichtjüdischen Frau als besondere Untreue.
Im Buch Ruth sterben die zwei Männer, die sich moabitische Frauen nahmen, früh. Erst als Ruth ihre Loyalität zum Judentum überzeugend verkündet, kann sie aufgenommen werden, und auch ihr späteres Kind wird Teil des jüdischen Volkes. In Richter 14,3 kritisieren die Eltern von Samson ihren Sohn: »Ist denn keine Frau unter den Töchtern deiner Brüder oder unter meinem Volk, dass du hingehst und eine Frau nimmst bei den Philistern, die unbeschnitten sind?« Auch König Salomon wurde für seine Liebe zu zahlreichen nichtjüdischen Frauen stark kritisiert.
Die Behauptung, dass die jüdische Identität einst über die väterliche Linie weitergegeben wurde, erscheint manchen glaubhaft, weil die Tora weder der interkonfessionellen Ehe noch der Patrilinearität ausdrücklich widerspricht. So scheint es wenigstens auf den ersten Blick. Doch es stimmt nicht, dass die Tora zur Matrilinearität schweigt.
Bezüglich des Kindes einer jüdischen Tochter, die einen Nichtjuden heiratet, heißt es (5. Buch Mose 7, 3–4): »Du sollst deine Töchter nicht seinem Sohne geben, noch ihre Töchter für deinen Sohn nehmen; denn er (der nichtjüdische Schwiegersohn) wird deine Söhne (also Enkelkinder) von mir abwendig machen.« Dass aber die nichtjüdische Schwiegertochter die Enkel »abwendig von G’tt« macht, darüber sagt die Tora kein Wort, weil deren Kinder ja ohnehin nicht jüdisch sind. Dass dies die richtige Interpretation des Textes ist, ergibt sich auch aus der Tatsache, dass Esra 9,2 im Wortlaut an die obige Stelle im 5. Buch Mose erinnert: »Denn sie haben deren Töchter genommen für sich.«
Die halachische Regel der Matrilinearität wird sich also nicht ändern. Zwar erkennt die Reformbewegung in den Vereinigten Staaten Vaterjuden seit 1983 an. Trotzdem geht es deren Gemeinden nicht besser. Die Verwässerung wesentlicher jüdischer Prinzipien führt nicht zu einer breiteren und tieferen Verbindung mit der jüdischen Gemeinschaft und dem Judentum, sondern zu Gleichgültigkeit. Unmittelbar gewinnt man vielleicht ein paar Mitglieder, langfristig aber geht das Schiff unter. Oder wie der ehemalige britische Oberrabbiner Lord Jonathan Sacks sagt: »When Judaism is easy, people lose faith.«
Warum also sollte eine jüdische Gemeinde Vaterjuden, das heißt Nichtjuden jüdischer Herkunft, aufnehmen? Damit man den Konflikt, in dem diese Menschen bereits leben (nämlich, dass sie unter Nichtjuden als Juden und unter Juden als Nichtjuden gelten), auf weitere Menschen überträgt und damit dafür sorgt, dass es noch mehr interkonfessionelle Ehen geben wird? Damit Entscheidungen von Leuten getroffen werden, die (solange sie sich nicht entscheiden, zu konvertieren) das Judentum zwar unterstützen, aber nicht zur jüdischen Zukunft gehören können?
Eine viel bessere Lösung ist es, innerjüdische Ehen zu fördern – und für die, die es ernsthaft wollen, den Weg zu einer anerkannten Konversion zu ermöglichen. Anderen Interessenten kann man ein kulturelles Programm anbieten, zum Beispiel als Mitglieder eines Vereins der Freunde einer jüdischen Gemeinde vor Ort. Ein solcher Verein sollte Menschen jüdischer Abstammung, aber auch anderen offenstehen.
Arie Folger ist Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Wien. Zuvor war er in Basel, München, Karlsruhe und Frankfurt am Main tätig.