Sündenbock

Ich schick dich in die Wüste!

»So trage der Bock auf sich alle ihre Missetaten in ein Land der Entsagung« (3. Buch Mose 16,22). Foto: Flash 90

Chaim Nachman Bialik (1873–1934) gilt als einer der einflussreichsten hebräischen Dichter und ist in Israel ein absoluter Klassiker. Er war aber auch für seine scharfe Zunge bekannt. Einst entgegnete der temperamentvolle Dichter einem jungen Kritiker, er möge sich zum »Azazel« scheren. Der junge Mann verklagte Bialik daraufhin wegen Beleidigung.

Zu seiner Verteidigung schrieb Bialik: »Vielleicht ist dieses Wort nach der üblichen Interpretation etwas hart, aber nach seiner wahren Bedeutung ist ›Azazel‹ der Name eines Berges in der Judäischen Wüste, zwei oder drei Stunden Fußmarsch von Jerusalem entfernt. Meiner Meinung nach ist dies ein sehr respektabler Ort für diesen Mann.«
Wie diese anekdotische Begebenheit zeigt, wird »Azazel« im hebräischen Slang für einen weit entfernten Ort verwendet, zu dem sich ein unbeliebter Zeitgenosse verziehen soll, so wie man im Deutschen jemandem sagt, er solle sich zum »Teufel« scheren, ihn dorthin verflucht, »wo der Pfeffer wächst«, oder »in die Wüste schickt«.

Der Begriff stammt aus einem Opfer-Ritual

Aber woher kommt dieser Ausdruck? Wir finden ihn bereits in der Tora, interessanterweise im Zusammenhang mit der Jom-Kippur-Prozedur im Tempel. Die Tora schreibt vor, an Jom Kippur zwei absolut identische Ziegenböcke zu nehmen und durch das Los einen für G’tt und einen für »Azazel« zu bestimmen. Der für G’tt bestimmte Bock wird im Tempel als Chatat (Sündopfer) dargebracht.

Der andere Ziegenbock, der für »Azazel« bestimmt ist, wird – nachdem der Kohen Gadol (Hohepriester) ein Sündenbekenntnis über ihn gesprochen hat – an Jom Kippur in die Wüste gebracht und dort von einem steilen Felsen geworfen. So erklärt auch der Tora-Kommentator Raschi (1040–1105), gestützt auf den Midrasch, die Etymologie des Wortes »Azazel«, das einen starken beziehungsweise steilen Felsen bezeichnet.

Zwei gleiche Böcke ereilen am heiligsten jüdischen Tag zwei unterschiedliche Schicksale.


Während die Funktion des ersten Bockes als Sündopfer an Jom Kippur verständlich ist, bedarf der Bock für Azazel und sein düsteres Schicksal einer Erklärung.

Dies geht so weit, dass im Talmud (Joma 76b) der Vers »Befolgt meine Gebote und haltet meine Satzungen« aus dem 3. Buch Mose so interpretiert wird, dass mit »Geboten« Gesetze gemeint sind, die plausibel und moralisch sind (wie das Verbot von Mord, Ehebruch und Götzendienst). Im Gegensatz dazu bezieht sich »Satzung« auf Gesetze, die (auf den ersten Blick) keine rationale Erklärung haben und über die sich andere Völker lustig machen. Als Beispiele für die zweite Kategorie nennt der Talmud das Verbot von Schweinefleisch und den Ziegenbock für Azazel an Jom Kippur.

Für diesen Ziegenbock scheint es keine einfache Erklärung zu geben, es muss also eine tiefere Idee dahinterstecken. Tatsächlich schreibt Nachmanides, der Ramban (1194–1270), in seinem Tora-Kommentar, dass es dafür eine kabbalistische Erklärung gibt, die auf dem Sohar basiert. Demnach handelt es sich um eine Opfergabe für den himmlischen Ankläger (also den Jezer Hara).

Er vergleicht es mit einem Festmahl, bei dem der Adlige seinen Untertanen befiehlt, dem »problematischen« Gast eine besonders großzügige Portion zu geben, damit dieser keinen Ärger macht. So dient auch der zweite Ziegenbock dazu, den Jezer Hara zu besänftigen, damit er von seiner Anklage gegen das jüdische Volk absieht und das himmlische Urteil für das jüdische Volk günstiger ausfällt. Nachmanides betont, dass es sich nicht um eine Opfergabe unsererseits an den Jezer Hara handelt (denn es ist verboten, ihm zu opfern), sondern um eine Art Geschenk G’ttes an den Jezer Hara. Deshalb dürfen die Böcke nur durch das Los bestimmt werden, damit auch der Bock für Azazel als Bestimmung G’ttes offenbar wird.

Maimonides, der Rambam (1138−1204), hingegen geht in seinem philosophisch-rationalen Werk More Nevuchim (»Führer der Unschlüssigen«) einen anderen Weg. Demnach ist es ein symbolischer Akt, den mit Sünden »beladenen« Bock aus der Gemeinschaft in die Wüste zu schicken. Natürlich können keine Sünden auf einen Bock übertragen und weggeschickt werden, aber G’tt will uns damit zeigen, dass man sich durch aufrichtige Teschuwa (Rückkehr zu G’tt) von seinen Sünden trennen kann.
In der Mischna (Joma 6,1) steht, dass die beiden Ziegenböcke äußerlich vollkommen identisch sind, den gleichen Wert haben und zur selben Zeit erworben werden sollen.

Warum spielen solche scheinbar banalen Details wie Aussehen und Wert der Ziegenböcke eine so wichtige Rolle?

Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808−1888) erklärt, dass die beiden Ziegenböcke an Jom Kippur uns eines der wichtigsten, wenn nicht das wichtigste und grundlegendste Konzept des Judentums lehren sollen – die freie Wahl zwischen Gut und Böse, richtig und falsch.

G’tt unternimmt alles Mögliche, um uns an Jom Kippur ein günstiges Urteil zu sichern.

Der Ziegenbock, der im Tempel als Opfer für G’tt dargebracht wird, symbolisiert die Möglichkeit, unsere irdischen Triebe zu kontrollieren und unsere Zeit und Kraft zu nutzen, um ein erfülltes und spirituelles Leben im Dienste G’ttes zu führen. Der Ziegenbock für Azazel hingegen symbolisiert die Möglichkeit des Menschen, seinen Schwächen nachzugeben und ein rein hedonistisches Leben zu führen.

Die Ausgangsbedingungen und der Ausgangspunkt sind identisch, beide standen nebeneinander im Vorhof des Tempels, und doch endet der Erste am heiligsten Tag des Jahres im Kodesch HaKodaschim, dem Allerheiligsten, während der Zweite, isoliert in der Wüste verendet.
An Jom Kippur überdenken wir unser Handeln und unsere Entscheidungen, und G’tt fällt Sein endgültiges Urteil.


Die beiden »Zwillingsböcke« lehren uns zum einen, wie G’tt alles Mögliche unternimmt, um uns ein günstiges Urteil zu sichern, und zum anderen, dass es nur von uns selbst und nicht von äußeren Faktoren abhängt, welche Entscheidungen wir treffen und wie wir unser Leben gestalten.


Der Autor ist Assistenz-Rabbiner der Gemeinde Kahal Adass Jisroel, Dozent am Rabbinerseminar zu Berlin, und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland.

USA

6500 Rabbiner auf einem Foto

»Kinus Hashluchim«: Das jährliche Treffen der weltweiten Gesandten von Chabad Lubawitsch endete am Sonntag in New York

 17.11.2025

Talmudisches

Torastudium oder weltliche Arbeit?

Was unsere Weisen über das rechte Maß zwischen Geist und Alltag lehren

von Detlef David Kauschke  14.11.2025

Chaje Sara

Bewusster leben

Sara hat gezeigt, dass jeder Moment zählt. Sogar ihr Schlaf diente einem höheren Ziel

von Samuel Kantorovych  13.11.2025

Spurensuche

Von Moses zu Moses zu Reuven

Vor 75 Jahren starb Rabbiner Reuven Agushewitz. Er verfasste religionsphilosophische Abhandlungen mit einer Intensität, die an Maimonides und Moses Mendelssohn erinnert. Wer war dieser Mann?

von Richard Blättel  13.11.2025

Wajera

Awrahams Vermächtnis

Was wir vom biblischen Patriarchen über die Heiligkeit des Lebens lernen können

von Rabbiner Avraham Radbil  07.11.2025

Talmudisches

Rabbi Meirs Befürchtung

Über die falsche Annahme, die Brachot, die vor und nach der Lesung gesprochen werden, stünden im Text der Tora

von Yizhak Ahren  07.11.2025

Festakt

Ministerin Prien: Frauen in religiösen Ämtern sind wichtiges Vorbild

In Berlin sind zwei neue Rabbinerinnen ordiniert worden

 06.11.2025

Chassidismus

Im Sturm der Datenflut

Was schon Rabbi Nachman über Künstliche Intelligenz wusste

von Rabbiner David Kraus  06.11.2025

Rezension

Orthodoxer Rebell

Sein Denken war so radikal, dass seine Werke nur zensiert erschienen: Ein neues Buch widmet sich den Thesen von Rabbiner Kook

von Rabbiner Igor Mendel  06.11.2025