Erinnerung

Wahrheiten schützen

Gedenken am 76. Jahrestag des Endes der Leningrader Blockade: Wladimir Putin am 18. Januar in St. Petersburg Foto: dpa

Anlässlich des 75. Jahrestags der Befreiung des von den Nationalsozialisten auf besetztem polnischen Boden errichteten Konzentrationslagers Auschwitz werden wir Zeugen von merkwürdigen Erinnerungskonkurrenzen: Die Republik Polen erlässt ein Gesetz, das die historische Wahrheit normieren soll, der russische Präsident versucht, die Polen zu diskreditieren, indem er sie zu Kollaborateuren NS-Deutschlands macht – als wäre im NS-besetzten Europa nicht Kollaboration von Einzelnen wie sogar von Regierungen historisch belegt.

Erinnert sei an das Verhalten Norwegens unter dem NS-affinen Ministerpräsidenten Quisling, an Ungarns Staatschef Horthy, an die Kollaboration der französischen Vichy-Regierung oder an die Wlassow-Armee, einen russischen Freiwilligenverband, der auf der deutschen Seite im Zweiten Weltkrieg kämpfte.

yad vashem Russlands Präsident Putin will nun die Archive öffnen, um Geschichtsfälschern »das Maul zu stopfen«. Beim World Holocaust Forum in Yad Vashem sprach er von der Pflicht, die Wahrheit schützen zu müssen. Nach Auschwitz ist er am 27. Januar nicht gefahren, wohl um der polnischen Regierung aus dem Weg zu gehen – vielleicht auch, um die Erinnerungskonkurrenz zwischen dem heute auf polnischem Boden liegenden Originalschauplatz des industriellen Mordens an den europäischen Juden, Auschwitz, und Yad Vashem, dem auf israelischem Boden platzierten Schoa-Erinnerungsort des jüdischen Staates, zugunsten Israels zu entscheiden.

Dass Bundespräsident Steinmeier sich auf diese vordergründige Diskussion nicht eingelassen hat, sondern beide Orte in seinen Trauerdiskurs einbezieht, ist die einzig richtige Entscheidung. Denn es geht nicht um das Befeuern von Erinnerungskonkurrenzen, sondern um das Gedenken an ein Menschheitsverbrechen ohnegleichen – den Mord an sechs Millionen Juden, an Sinti und Roma, an Homosexuellen und anderen im NS-Rassewahn ausgegrenzten Personengruppen, beispiels­weise politische Gegner der Nationalsozialisten.

Dabei sollte niemand die immense historische Forschungsarbeit in Yad Vashem und den Originalschauplatz Auschwitz mit seinen wichtigen Forschungsbeiträgen gegeneinander aufrechnen, sondern – wie Steinmeier es macht – die gemeinsame trauernde Erinnerungsarbeit für eine Zukunft, in der keine Personengruppe ausgegrenzt wird, in den Vordergrund stellen.

Russlands Präsident Putin will Geschichtsfälschern »das Maul stopfen«.

perspektive Dass die Erinnerung in den heutigen Staaten der ehemaligen Sowjetunion auch andere Perspektiven hat als die jüdischen Opfer oder die Polen, ergibt sich aus der Territorialgeschichte. Natürlich ist für die Polen der Hitler-Stalin-Pakt, der in Wirklichkeit von den beiden Außenministern Molotow und Ribbentrop unterzeichnet wurde, ein Stein des Anstoßes, ist doch die Sowjetunion 1939, mit Nazi-Deutschland abgestimmt, in das damalige Ost-Polen eingefallen, um es zu annektieren und Teile der polnischen Eliten zu liquidieren.

Die Zerstörung Warschaus und der polnischen Heimatarmee im Warschauer Nationalaufstand von 1944 durch die NS-Truppen unter den Augen der am anderen Ufer der Weichsel angekommenen Roten Armee ist aus Sicht der Polen ein bis heute unerträglicher Schmerz – wie die jahrzehntelange Etablierung des Sowjetsystems in den Staaten Osteuropas oder die jetzt als europäische Friedensordnung festgeschriebene Ostgrenze Polens, die durch den 1939 geschlossenen Pakt 1945 von den Weltkriegsalliierten gebilligt, doch Polen um einige Hundert Kilometer westwärts verschoben hat.

Das Gedenken an den fabrikmäßigen Mord von sechs Millionen europäischen Juden, die Bürger und Nachbarn in unterschiedlichen Staaten Europas waren, ist im Vergleich zu solchen – die Territorialgeschichte betreffenden – Vorgängen von anderer Qualität. Eroberungskriege, staatliche Allianzen, diplomatische Händel – das ist der Stoff, aus dem die europäische Geschichte über Jahrhunderte gewebt worden ist.

zivilisationsbruch Aber der Zivilisationsbruch, das fabrikmäßige Morden von Juden, Sinti und Roma, von Patienten, Osteuropäern, Schwulen oder wer auch immer im verquasten Rassedenken der Nationalsozialisten ausgegrenzt wurde, hat eine andere Qualität. Dazu gehören eben auch das Plattwalzen von Warschau und die Morde an Polen, dazu gehört aber auch die Blockade von Leningrad, bei der es zudem darum ging, nicht nur ein militärisches Ziel zu erreichen, sondern die aus Sicht der NS-Herrenmenschen als Untermenschen definierten Russen und mit ihnen die jüdischen Bewohner der Metropole hungers sterben zu lassen.

Die Erinnerung an die Millionen Opfer des Zweiten Weltkriegs und der Schoa eint und trennt noch immer – und ist noch lange nicht abgelegte »alte« Geschichte. Deshalb werden wir jetzt Zeugen von Erinnerungskonkurrenzen, deshalb wollen viele Staaten ihre nationale Erinnerung mit der Erinnerung an den Zivilisationsbruch verbinden.

Aus der Geschichte lernen heißt eben gerade das: keine Ausgrenzungen aus scheinbar »rassischen«, religiösen oder sonstigen, die Identität einer Menschengruppe bestimmenden Gründen zuzulassen. Jeder einzelne ausländerfeindliche, antizigane oder antisemitische Vorfall zeigt, dass der vor 75 Jahren begonnene Lernprozess noch immer nicht am Ziel angekommen ist.

Der Autor ist Historiker und Rabbiner in Berlin.

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