Braunschweig

Straffreie Hetze?

Martin K. ist Funktionär bei »Die Rechte«: Aufmarsch der Partei am 1. Mai 2015 in Essen Foto: picture alliance / imageBROKER

Gerhard Wegner macht seinem Unmut offen Luft. »Das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Wenn jemand eine Menschengruppe, egal welche, als ›Judenpack‹ beschimpft, dann ist das eine eklatante Form von Verhetzung und Verharmlosung der Nazi-Diktatur. So etwas muss geahndet werden, dafür gibt es keine Rechtfertigung«, findet der niedersächsische Antisemitismusbeauftragte. Wegner ist nicht der Einzige, der mit deutlichen Worten sein Unverständnis äußert. Aus ganz Deutschland hagelt es Kritik.

Am 15. November 2020, dem Volkstrauertag, hatte Martin K., stellvertretender Vorsitzender der neonazistischen Splitterpartei »Die Rechte« in Braunschweig und Hildesheim, nach einer bereits beendeten Versammlung seiner Partei mehrere Medienvertreter als »Judenpresse« und »Judenpack« beschimpft und ihnen »Feuer und Benzin« angedroht. Einer der Journalisten hatte den Vorgang auf seinem Handy gefilmt und später im Internet veröffentlicht.

Volksverhetzung Mehrere Bürger, darunter ein jüdisches Ehepaar, erstatteten später Anzeige. Gleich zweimal prüfte die Braunschweiger Staatsanwaltschaft den Vorgang. Beide Male stufte sie die Beschimpfungen nicht als Volksverhetzung ein – mangels hinreichenden Tatverdachts. Lediglich der Tatbestand der Beleidigung komme in Betracht, da die Adressaten der Äußerungen »allein die anwesenden Pressevertreter« gewesen seien, heißt es im Einstellungsbeschluss. Da die unmittelbar Betroffenen jedoch nicht binnen drei Monaten Anzeige erstattet hätten, sei das Ganze nicht mehr verfolgbar.

Dass sich die Äußerungen des Beschuldigten auch gegen die in Deutschland lebenden Juden gerichtet hätten, lasse sich dagegen »nicht belegen«, folgerte der zuständige Staatsanwalt. »Der Begriff ›Judenpack‹ ist im unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Begriff ›Judenpresse‹ erfolgt. Damit liegt auf der Hand, dass der Beschuldigte die anwesenden Medienvertreter als ›Judenpack‹ bezeichnen wollte, nicht aber zugleich die in Deutschland lebenden Juden als ›Pack‹ bezeichnet werden.« Hinzu komme, dass die Äußerungen »ersichtlich spontan erfolgt« und »eine Reaktion auf die vor Ort anwesenden Medienvertreter« gewesen seien. Bei Veranstaltungen des rechten Spektrums, die von Medienvertretern begleitet würden, sei so etwas gang und gäbe, so der Staatsanwalt.

Auch an der in Paragraf 130 des Strafgesetzbuchs geforderten Öffentlichkeit der Aussagen habe es gefehlt, da keine Personen anwesend gewesen seien, die hätten aufgehetzt werden können. Das von einem Journalisten später veröffentlichte Handyvideo des Vorfalls habe den Vorgang später zwar publik gemacht. Damit habe K. aber nicht rechnen können.

Der Fall zeigt erneut exemplarisch, wie schwierig die Strafverfolgung von antisemitischen Ausbrüchen auf deutschen Straßen weiterhin ist. Das liegt zum einen an dem vom Bundesverfassungsgericht sehr weit gesteckten Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Demnach sind öffentliche antisemitische Äußerungen nicht unbedingt gleichbedeutend mit Volksverhetzung. Hierfür sind weitere Kriterien zu erfüllen. Zum anderen haben viele Staatsanwälte Sorge, vor Gericht zu scheitern.

Die Beschwerden mehrerer Personen
werden derzeit geprüft.

Dennoch hat in den letzten Jahren auch bei vielen Ermittlern ein Bewusstseinswandel eingesetzt. Das zumindest glaubt Andreas Franck, Münchner Oberstaatsanwalt und Antisemitismusbeauftragter der bayerischen Justiz. »Wir bringen heute deutlich mehr Fälle wegen Volksverhetzung vor Gericht als noch vor vier oder fünf Jahren«, sagte Franck. Das sei Ausdruck einer erhöhten Sensibilität vieler Staatsanwälte, insbesondere nach den Erfahrungen mit den Protesten gegen die Corona-Beschränkungen, bei denen es vielfach zu judenfeindlichen Vorfällen gekommen war. Zudem seien die Grenzen der Meinungsfreiheit im Lichte des gesellschaftlichen Wandels stets neu auszuloten. Zu dem Fall in Niedersachsen wollte Franck sich nicht äußern, wies aber darauf hin, dass die Staatsanwaltschaften in Bayern zuletzt mehrere Fälle von Volksverhetzung vor Gericht gebracht hätten.

In Braunschweig ist Martin K. seit Langem wegen seiner judenfeindlichen und rassistischen Ausfälle »amtsbekannt«. Einige Wochen nach dem Vorfall vom Volkstrauertag 2020 hetzte er erneut gegen Juden und gegen Israel. Vor dem Braunschweiger Hauptbahnhof brüllte er im Dezember 2020 Gegendemonstranten an mit »Ihr miesen Leute aus Israel« und belegte sie mit weiteren, nicht zitierfähigen Schimpfwörtern. Diesen und zwei weitere Vorfälle bewertet die Staatsanwaltschaft anders. Sie hat Anklage gegen K. erhoben – allerdings nur wegen Beleidigung.

CHIFFREN Die Kritik an der Einstellung des Verfahrens wegen Volksverhetzung lässt dennoch nicht nach. Mehrere Personen haben Beschwerden eingelegt. Sie würden aktuell geprüft, so ein Sprecher der Braunschweiger Staatsanwaltschaft.

Auch Sabine Leutheusser-Schnarrenberger überzeugen die Argumente der Braunschweiger Ermittler nicht. Die Vokabel »Juden« werde hier in einem beschimpfenden und herabwürdigenden Kontext gebraucht, so die ehemalige Bundesjustizministerin und amtierende Antisemitismusbeauftragte Nordrhein-Westfalens. »Aus meiner Sicht müssen wir bei Staatsanwaltschaften vielmehr ein Bewusstsein dafür schaffen, in welchen Formen sich Antisemitismus heute äußern kann und welche Typen von Codes oder Chiffren benutzt werden, um antisemitisch zu hetzen«, sagte sie dieser Zeitung.

Leutheusser-Schnarrenbergers niedersächsischer Kollege Gerhard Wegner will nun das Gespräch mit den Staatsanwälten suchen. Er setze darauf, dass die Justiz »einen klugen Weg findet, um den fatalen Eindruck der Billigung von Antisemitismus ein für alle Mal aus dem Weg zu räumen.« Alles andere, so Wegner, wäre schlicht »blamabel«.

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