Identität

Stippvisite mit neuem Pass

Die Angestellte der Fahrradvermietung in Berlin ist überrascht: Drei Touristen, die vor ihr gestikulieren und sich laut in einer fremden Sprache unterhalten, hinterlegen deutsche Pässe als Pfand für die Fahrräder.

Die Geschwister Ephrat, Shlomit und Omer Havron sind zum ersten Mal in Deutschland. Bislang lagen ihre deutschen Reisepässe zu Hause in der Schublade. Doch hierher mussten sie sie mitnehmen, denn mit ihren israelischen Papieren dürfen sie als deutsche Staatsbürger nicht einreisen. Das gilt für jeden, der mehrere Pässe besitzt. Nun fahren sie bei herrlichem Sonnenschein mit ihren gemieteten Rädern über den Kurfürstendamm. Sie treten sanft in die Pedale, um möglichst viel von Berlin zu sehen, der Geburtsstadt ihrer Großmutter.

Ephrat (40) schiebt ihre Sonnenbrille ins dunkle Haar. »Es ist für uns Israelis keine emotionslose Sache, einen deutschen Pass zu haben«, sagt sie. Es habe Zeit gebraucht, bis sie sich dazu entschlossen. Shlomit (36) nickt. »Unsere Eltern würden niemals einen deutschen Pass beantragen. Aber in unserer Generation ist das üblicher.« Omer (27), ihr jüngerer Bruder, grinst: »Manche würden sich nicht mal einen Volkswagen kaufen. Aber ich denke, die Situation heute ist eine ganz andere. Deutschland ist nicht Israels Feind.«

versicherung In der israelischen Zeitung Yedioth Ahronoth konnte man jüngst lesen: »Jahrzehntelang haben sich die Jeckes geweigert, deutsche Produkte zu kaufen und deutschen Boden zu betreten. Jetzt kämpfen ausgerechnet ihre Enkel um das Recht, deutsche Staatsbürger zu werden.« So kann man nämlich innerhalb der EU studieren oder in Länder reisen, für die man als Israeli kein Visum bekommt. Manche geben auch an, es sei eine Art Versicherung für ernste Zeiten. Die Soziologin Sima Zalcberg hat für eine Studie der Bar-Ilan-Universität ermittelt, dass mehr als 100.000 Israelis die deutsche Staatsbürgerschaft haben. Nach Angaben des Kölner Bundesverwaltungsamtes sind in den vergangenen zehn Jahren rund 25.000 israelische Einbürgerungsanträge bewilligt worden.

Auch die von Ephrat, Shlomit und Omer. Sie haben ihre deutschen Pässe vor etwa drei Jahren bekommen. »Ein mühsamer Prozess«, sagt Ephrat. Sie mussten bei der deutschen Botschaft in Tel Aviv einen »Antrag auf Einbürgerung nach Artikel 116 (2) Grundgesetz« stellen. Dort heißt es über diejenigen, denen zwischen 1933 und 1945 die Staatsangehörigkeit entzogen wurde: »Ihre Abkömmlinge sind auf Antrag wieder einzubürgern«.

Für Ephrat, Shlomit und Omer war das kompliziert: Ihre Großmutter, Uschi Rosenberg, die in Berlin aufwuchs und nun in Israel lebt, fiel aus formaljuristischen Gründen aus. Also beriefen sich die Geschwister auf den 1988 verstorbenen Großvater väterlicherseits: Günther Heilbrunn, der aus Essen stammte. Er war Anfang 1939 als Begleiter eines Kindertransports nach England gegangen und später nach Palästina gelangt. Von seinem Recht, die deutsche Staatsbürgerschaft zurückzuerhalten, machte er keinen Gebrauch. Er hatte mit diesem Land abgeschlossen. Auch sein Sohn Avri, der Vater der drei Geschwister, könnte sich niemals vorstellen, Deutscher zu werden. Aber er und seine Frau Nitza meinen, dass sie nicht das Recht haben, ihre Kinder daran zu hindern.

Nitza sagt zwar, das mit den deutschen Pässen sei »eine delikate Sache«, aber sie unterstützte ihre Kinder dennoch. Ein Anwalt besorgte ihnen in deutschen Archiven die für die Einbürgerung notwendigen Dokumente. Nach ein paar Monaten bekamen sie einen Brief von der Botschaft: Sie könnten ihre Pässe abholen.

Omer hatte damals gerade den Militärdienst hinter sich und war in Australien. Also fuhren Ephrat und Shlomit hin. »Es war unangenehm«, sagt Ephrat. »Wir mussten anstehen, bekamen Nummern und mussten lange warten. Die Beamten waren zwar korrekt und freundlich, aber es erinnerte uns an so manches, was wir von Deutschland gehört hatten.«

Und was meint die Großmutter dazu, dass ihre Enkel die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen haben? Die alte Dame musste Berlin als Kind in den 30er-Jahren verlassen. Shlomit erzählt: »Ich habe ihr gesagt, dass es wichtig für uns ist, einen anderen Pass zu haben. Vielleicht müssen wir eines Tages vorübergehend woanders hingehen, Israel ist ein gefährdetes Land.« Die Großmutter hat sie ausgelacht: »Ich glaube nicht, dass Deutschland euch helfen wird.« Ephrat blickt ernst: »Für sie ist es unverständlich, dass ihre Enkel ausgerechnet in Deutschland den Ort sehen, wohin sie in der Not fliehen würden.«

Gefühl Die Worte der Großmutter gehen den drei Israelis nicht aus dem Kopf. Omer sagt: »Ich glaube, dass Deutschland für Juden der drittsicherste Ort auf der Welt ist: An erster Stelle steht Israel, danach kommt New York mit seiner großen jüdischen Bevölkerung und schließlich Deutschland, wo viele Menschen irgendwie Schuld empfinden.« Omers Schwestern schauen ihn verwundert an. »Ich weiß nicht«, sagt er zögerlich, »aber ich könnte mir vorstellen, dass es für Juden in Deutschland leichter ist als für Türken.« Da fallen ihm die Geschwister ins Wort: »Woher willst du das wissen?«, fragt Shlomit energisch. Omer zuckt mit den Schultern: »Ich habe so das Gefühl«.

Wenn die drei an diesen hellen Sommertagen durch Berlin schlendern, haben sie oft das Bild ihrer Großmutter vor Augen: Wie sie als Zehn-, Elfjährige durch genau diese Straßen ging. »Das war ihr Zuhause«, sagt Shlomit. »Als wir vor ihrem Haus in der wunderschönen Bleibtreustraße standen, fielen mir ihre Erzählungen ein, wie sie nach Palästina kam: Wüste, Mücken, Hitze und sonst nichts. Sie schliefen in Zelten. Was für ein Gegensatz: von einem feinen bürgerlichen Haus am Kudamm nach Bet Schemesch!«

Die vier Tage in Berlin lassen Ephrat, Shlomit und Omer auch viel über sich selbst nachdenken. »Wir hätten hier geboren sein können«, sagt Ephrat. Viele Jahre sei für sie klar gewesen, dass sie nicht nach Deutschland reisen möchte. »Doch jetzt, wo ich hier bin, spüre ich, dass ich diesen Ort vermisst habe, ohne es zu wissen.« Man möge sie bitte nicht falsch verstehen, betont sie, sie sei Zionistin, »aber der richtige Lauf der Geschichte ist, dass wir hier sein sollten. Das ist der Ort, an dem meine Großeltern aufwuchsen, es ist die Landschaft, die wir in uns tragen.« Ephrat, Shlomit und Omer wollen in Israel wohnen bleiben, aber sie werden demnächst auch für ihre Kinder deutsche Pässe beantragen – in der Hoffnung, sie immer nur zum Reisen zu benutzen.

Josef Schuster

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