Protest

Mehr Mut zum Streit!

Esther Schapira Foto: Chris Hartung

Protest

Mehr Mut zum Streit!

Nirgendwo wird so leidenschaftlich um den Kurs der Regierung und um die Demokratie gerungen wie in Israel. Von dieser Haltung kann die Diaspora viel lernen. Ein Kommentar von Esther Schapira

von Esther Schapira  06.04.2025 09:05 Uhr

Der letzte Blick beim Abschied in Tel Aviv gilt den Geiseln. In der Abflughalle sehe ich auf Plakaten in vertraut gewordene Gesichter, die mich zwei Wochen lang im ganzen Land begleitet haben. Auch das letzte Wort aus dem Cockpit bei der Ankunft in Frankfurt gilt den Geiseln. »EL AL und das ganze israelische Volk warten auf die Rückkehr all unserer Brüder und Schwestern nach Hause.«

Ich bin gelandet, aber bin ich zu Hause? Eben noch fühlte ich mich verbunden mit der Mehrheit, mit den vielen Tausend, die sich Woche für Woche auf dem Platz der Geiseln mitten in Tel Aviv versammeln. Gemeinsam haben wir gerufen: »Bringt sie nach Hause! Alle! Jetzt!« Ein Meer von gelben Schleifen. Gemeinsame Trauer, gemeinsame Wut, gemeinsame Kraft. »Hier bin ich sicher, dass Menschen mir helfen. Nirgendwo sonst auf der Welt habe ich dieses Gefühl«, sagt Illit, die den 7. Oktober überlebt hat, weil die israelische Armee Nir›am, ihren Kibbuz, verteidigen konnte. »Dieser Zusammenhalt ist für mich als Jüdin die wahre Stärke Israels.«

Die brutalste Waffe der Hamas

Genau deshalb ist die überwältigende Mehrheit der Israelis auch dafür, nahezu jeden Preis zu zahlen, um die Geiseln nach Hause zu holen. Deren Qual und die damit verbundene psychische Folter eines ganzen Volkes ist die brutalste Waffe der Hamas.

Diese Waffe ruhte in keiner Waffenruhe. Jedes neue Geiselvideo verletzt Millionen Herzen. Zu wissen, dass die Geiseln angekettet und in völliger Dunkelheit ausgehungert werden, ist unerträglich. »Alle! Jetzt!« ist ein verzweifelter Schmerzensschrei, der sich gegen die Hamas, aber inzwischen auch gegen die eigene Regierung richtet, die weiter auf militärischen Druck setzt, der Zeit und Opfer kostet. Zeit, die die Geiseln in ihrem Verlies, 30 Meter unter der Erde, nicht haben. Die gelbe Schleife wird deshalb zunehmend auch zum Symbol des Protestes gegen eine Regierung, die laut Umfragen das Vertrauen der Mehrheit verloren hat.

Die heftige Debatte über den richtigen Weg zur Befreiung der Geiseln gehört genauso zu diesem Kampf wie das Gefühl der Verbundenheit. Tausende singen Woche für Woche auf dem Geiselplatz gemeinsam die Hatikwa. Sie lassen sich den zionistischen Traum, ein freies Volk in einem freien jüdischen Land zu sein, nicht zerstören, von niemandem.

Eine jüdische Community, die sich selbst einen Maulkorb verpasst, wird kein Gehör finden.

Israel kämpft gegen einen Feind, der Baby Kfir und seinen vierjährigen Bruder Ariel mit bloßen Händen erwürgt hat und Oppositionelle in Gaza zu Tode foltert. In der Wahrnehmung selbst des anfänglich Israel zugeneigten Teils der Welt aber sind aus den Opfern von gestern längst die Täter von heute geworden. Die Welt versteht Israel nicht mehr, und Israel versteht die Welt nicht mehr.

»Wenn wir gegen den Islamismus kämpfen, dann kämpfen wir doch nicht nur für uns«, sagt Orna, »sondern für die Freiheit auch all derer, die uns heute verurteilen, gerade auch der Feministinnen.« Orna ist Teil der israelischen Linken. Ihr Kibbuz Manara, ganz oben im Norden an der libanesischen Grenze, ist komplett zerstört durch Raketenbeschuss der Hisbollah. Sie ist wütend und kämpft weiter: gegen die Ignoranz des Westens, den Verrat vermeintlicher Verbündeter, für die Freilassung der Geiseln, für Neuwahlen und gegen die eigene Regierung. So wie sie denken viele. »Alle! Jetzt!«

In Israel ist der Kampf gegen den äußeren Feind und der Kampf um die eigene Demokratie kein Widerspruch, und er wird laut und heftig geführt. Und in Deutschland?

Vergebliches Werben um Verständnis für die israelische Perspektive

Wenige Flugstunden und eine lange Geschichte trennen die jüdische Gefühlswelt hier von der israelischen. Seit dem 7. Oktober 2023 wirbt die jüdische Gemeinschaft weltweit zunehmend vergeblich um Verständnis für die israelische Perspektive. Der Kampf an der täglichen Front aus Unverständnis, Gleichgültigkeit oder Feindseligkeit zermürbt und duldet keine abweichende Meinung. Kritik soll höchstens zu Hause und leise geäußert werden. In jüdischen Chatgruppen wird der Diskursraum kleiner. Debattenverbote sollen den gemeinsamen Nenner, Israel gegen seine Angreifer an so vielen Fronten zu verteidigen, retten.

Eine jüdische Community aber, die sich selbst einen Maulkorb verpasst, wird kein Gehör finden. Wer zu Recht anmahnt, dass Kritik auch im Krieg nicht verstummen darf, und wer sich über die mutigen Menschen in Gaza freut, die endlich gegen die Hamas auf die Straße gehen, der darf keine Angst vor der eigenen offenen Debatte haben. Sie ist der Sauerstoff der Demokratie.

Wenn ein Untersuchungsbericht zum 7. Oktober verhindert, der politisch unbequeme Chef des Schin Bet abgesetzt, die Schwächung der unabhängigen Justiz vorangetrieben, Siedlergewalt ermutigt und rechtsradikale europäische Politiker als Bündnispartner im Kampf gegen Antisemitismus hofiert werden, dann ist das nicht nur eine innerisraelische Frage, sondern eine der eigenen zionistischen Glaubwürdigkeit. Mit der gelben Schleife lautstark über den richtigen Weg streiten für das gemeinsame Ziel: »Alle! Jetzt!« Ein freies Volk in einem freien Land macht es uns vor.

Die Autorin ist Journalistin, Preisträgerin der Buber-Rosenzweig-Medaille und lebt in Frankfurt.

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