Faktencheck

Marcel Reich-Ranicki sprach nie von »Schuldkult als Dauerimpfung«

Marcel Reich-Ranicki (1920 - 2013) Foto: picture alliance/United Archives

Faktencheck

Marcel Reich-Ranicki sprach nie von »Schuldkult als Dauerimpfung«

Wie der gestorbene Literaturkritiker für aktuelle Polit-Debatten auf Social Media genutzt wird – und wie seine echten Aussagen aus Lebzeiten tatsächlich klingen

 28.10.2025 11:07 Uhr

Der berühmte Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki war bis zu seinem Tod im Jahr 2013 ein Freund klarer Worte. Doch dafür, dass sich Deutschlands einstiger Literaturpapst tatsächlich auf die Weise mit der Identität der Deutschen auseinandergesetzt hat, wie es im Herbst 2025 verbreitet wird, gibt es keinerlei Beleg.

Dem jüdischen Autoren, dessen Familie während des Holocaust ermordet wurde, wird die Warnung zugeschrieben: »Der Deutsche soll gebrochen werden.« Zudem soll er vermeintlich die Abschaltung von Kraftwerken oder den Umgang mit der Pandemie angeprangert haben.

Bewertung

Reich-Ranicki starb lange, bevor einige der im Clip thematisierten Ereignisse überhaupt stattfanden. Zudem entsprechen seine belegten Ansichten über die Deutschen überhaupt nicht den nun kolportierten Aussagen.

Fakten

Bei Büchern gab es für Marcel Reich-Ranicki (1920-2013) wenig Kompromisse: Sie wurden meist entweder verrissen oder über den grünen Klee gelobt. Wie kaum ein anderer deutscher Intellektueller schaffte er es, mit der Sendung »Das literarische Quartett« das Medium Buch im Fernsehen populär zu machen.

Die ihm nun untergeschobenen Sätze und Schlagworte hatten vor 2013 teils weniger bis keine Relevanz. Für keine der angeblichen Aussagen gibt es einen Beweis, dass sie von Reich-Ranicki stammen.

Reich-Ranicki und das deutsche Selbstbild

Der Literaturkritiker soll angeblich gesagt haben: »Der Deutsche soll gebrochen werden. [...] Man bombardiert ihn Tag für Tag mit Schuld, Angst und Lügen. [...] Man erzählt ihm, er sei verantwortlich für die Verbrechen längst toter Generationen. Schuldkult als Dauerimpfung, Stolz wird kriminalisiert, Identität wird verteufelt.«

Es stimmt zwar, dass Reich-Ranicki nicht der ganzen deutschen Bevölkerung die Schuld für die NS-Verbrechen zugeschoben hat. Er habe »zu häufig erlebt, dass ein Jude irgendwo irgendetwas getan hat, und plötzlich saßen alle Juden auf der Anklagebank und wurden dafür verantwortlich gemacht. Es fiel mir schwer, plötzlich das gesamte deutsche Volk für den Nationalsozialismus und den Holocaust verantwortlich zu machen«, sagte er in einem Interview von 1986, das später als Buch herausgegeben wurde (Auszüge, kostenpflichtig).

Doch eine Wortwahl wie »der Deutsche soll gebrochen werden« oder »Schuldkult als Dauerimpfung« entspricht überhaupt nicht dem Ton des Literaturkritikers oder den Angaben in seinen nachweisbaren Veröffentlichungen. Ganz im Gegenteil.

Was Reich-Ranicki tatsächlich veröffentlichte

Über den sogenannten Historikerstreit etwa, in dem es Ende der 1980er Jahre unter anderem um die Relativierung der NS-Verbrechen ging, konstatiert Reich-Ranicki: »Er entsprach dem Bedürfnis beileibe nicht nur der Rechtsradikalen, das Verhältnis zum Nationalsozialismus zu revidieren.«

Reich-Ranicki reagierte auch auf die viel kritisierte Rede des deutschen Schriftstellers Martin Walser bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1998, in der dieser von einer »Instrumentalisierung« des Gedenkens an den Holocaust in Deutschland gesprochen und davor gewarnt hatte, das Thema Auschwitz ständig als »Moralkeule« zu benutzen.

In seiner Autobiografie »Mein Leben« von 1999 thematisiert Reich-Ranicki die Walser-Rede, in der es seiner Ansicht nach »von vagen Formulierungen und bösartigen Anspielungen wimmelt und von Beschuldigungen, denen die Adressaten fehlen«, und schreibt: »Ich will nicht verheimlichen, dass mich Walsers Rede tief getroffen und verletzt hat.«

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Über einen deutschen Nationalstolz schreibt er weiter: »Der Patriotismus ist noch nichts Negatives - und doch macht er mich oft misstrauisch. Denn nur ein Schritt trennt ihn vom Nationalismus, und es ist wiederum bloß ein Schritt, der zwischen dem Nationalismus und dem Chauvinismus liegt.«

Name missbraucht

Dem vor mehr als zwölf Jahren gestorbenen Literaturkritiker werden Sätze in dem Mund gelegt, die vielmehr in gegenwärtigen Polit-Diskussionen eine Rolle spielen. Im Einzelnen:

  • »Man hetzt ihn [den Deutschen] mit der Klimakeule. Ihm wird eingeredet, sein Auto, seine Heizung, sein Steak seien der Untergang der Welt.«

Die große Debatte über das Heizungsgesetz gab es erst in den Jahren der Ampelregierung (2021-2025), also lange nach Reich-Ranickis Tod.

  • »Strompreise explodieren, weil funktionierende Kraftwerke abgeschaltet wurden, nicht aus Notwendigkeit, sondern aus Ideologie.«

Der deutsche Kohleausstieg wurde endgültig erst 2020 beschlossen. Beim Atomausstieg war das zwar schon vor 2013 der Fall, doch sind über diese Maßnahme keine Aussagen Reich-Ranickis bekannt.

  • »Man überschüttet ihn [den Deutschen] mit Krisen, Pandemie, Krieg, Inflation, Terror, Hitzewelle.«

Mit dem Begriff »Pandemie« wird vor allem die weltweite Corona-Pandemie in Verbindung gebracht. Der Ausbruch ist erst auf Ende 2019 datiert.

Kurzum: Keine der Aussagen kann dem Literaturkritiker zugeschrieben werden, da jeder Beleg fehlt und tatsächliche Aussagen ganz anders klingen. Nicht selten legen Social-Media-User berühmten Menschen Worte in den Mund, um ihre Berühmtheit und Autorität für ihre Zwecke zu missbrauchen.

Bilder von 1992

Die Fernsehausschnitte mit Reich-Ranicki stammen aus einer Sendung des »Literarischen Quartetts« vom Mai 1992 - erkennbar etwa an der Kleidung des Kritikers sowie der seiner Kollegen. Die ausladenden Handbewegungen und Gesten des Moderators vom Anfang des Social-Media-Clips sind in der Sendung wiederzufinden (ab 22:14 Min.). dpa

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