Interview

»Hamas wird versuchen, die Zeit für sich arbeiten zu lassen«

Gerhard Conrad war Nahost-Experte des Bundesnachrichtendienstes und mehrfach Vermittler in Geiselverhandlungen in der Region Foto: picture alliance / dpa

Interview

»Hamas wird versuchen, die Zeit für sich arbeiten zu lassen«

Der ehemalige Nahost-Vermittler Gerhard Conrad über das Abkommen zur Befreiung von Geiseln

von Michael Thaidigsmann  22.11.2023 12:37 Uhr

Herr Conrad, wie bewerten Sie das jetzt getroffene Abkommen zur Freilassung von Hamas-Geiseln?
Der Deal ist ein erster Schritt, eine Teillösung der Geiselfrage. Und er wird zumindest eine kurzzeitige Linderung der humanitären Not in Gaza bringen. Sollte das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) tatsächlich Zugang zu den von der Hamas weiter festgehaltenen Geiseln erhalten, könnte das die Situation dieser Menschen und ihrer Familien etwas stabilisieren. Insbesondere dann, wenn es sich um wiederkehrende Besuchsoptionen handelt. Militärisch gesehen erscheint mir die vereinbarte Feuerpause vertretbar. Nicht umsonst haben sich in Israel offenbar auch die Armeeführung und auch die Nachrichtendienste für den Deal ausgesprochen.

Wer hat sich Ihrer Meinung eher durchgesetzt, Israel oder die Hamas?
Verglichen mit früheren Fällen ist dieser Deal nicht grob ungleichgewichtig. Der Schlüssel, also drei palästinensische Sicherheitshäftlinge gegen eine Geisel in der Gewalt der Hamas auszutauschen, dürfte für Israel hinnehmbar sein. Er könnte im Übrigen auch eine Indizwirkung für weitere Austauschoperationen entfalten, obwohl man aktuell noch nicht sagen kann, dass darüber schon ein Konsens bestünde. Die Implikationen der Umsetzung des Abkommens sind noch nicht absehbar. Hier bestehen nach wie vor gegenläufige Interessen: Die Hamas will wohl, auch mit Blick auf weitere Teilabkommen, eine möglichst lange Feuerpause herausholen, um militärisch und politisch wieder Boden unter den Füßen zu gewinnen. Die israelische Interessenlage, nämlich eine völlige Zerschlagung der Hamas, steht dem entgegen. Der Prozess bleibt eigendynamisch, komplex und ist kaum zuverlässig vorhersehbar.

Was ist das »Endgame« beider Seiten in der Geiselfrage? Und was muss passieren, damit auch die übrigen Entführten bald freikommen?
Entscheidend wird sein, in welchem militärischen und politischen Zustand beide Seiten die abschließende Phase der Verhandlungen erreichen. Sollte die Hamas sich durch weitere Teilabkommen, auch mit regionaler und internationaler Unterstützung, als politischer Akteur behaupten können, wird Israels Regierung sich mit erheblichen Forderungen konfrontiert sehen. Die Rückkehr zu militärischem Druck wird umso schwerer werden, je länger die Sequenz von Teil-Deals und Feuerpausen andauert. Und die Hamas wird versuchen, die Zeit für sich arbeiten zu lassen.

Wenn Israel die Wahl hat zwischen dem Stopp seiner Militäroperation in Gaza einerseits und der Ausschaltung der Hamas andererseits, mit entsprechendem Risiko für das Leben der Geiseln, welche Option wird es wählen?
Das weiß Israel wohl selbst noch nicht. Diese Abwägung zwischen zwei so gegensätzlichen Zielen wird aller Voraussicht nach situationsbezogen erfolgen.

Wer sind die entscheidenden externen Akteure bei den Geiselverhandlungen?
In erster Linie Katar und Ägypten. Katar als Vermittler und Ägypten zumindest als »Facilitator« für die Kontakte ins Kriegsgebiet. Die USA als strategischer Partner sowohl Israels und auch Katars sind offenbar ebenfalls entscheidend für die Willensbildung. Europa mag flankierend gewirkt haben.

Dem Roten Kreuz wurde vorgeworfen, nicht genug zu tun, um die Geiseln aufsuchen zu können. Wie bewerten Sie das?
Vorwürfe an die Adresse des IKRK zählen zum Standardrepertoire politisch opportuner Aussagen, gerade in Phasen eigener Schwäche. Wir sollten aber zur Kenntnis nehmen, dass das IKRK nur dann handeln kann, wenn bei beiden Konfliktparteien der Wille dazu vorhanden ist. Die Hamas hat sich auch früher schon intransigent gegenüber entsprechenden Forderungen gezeigt. Umso bemerkenswerter erscheint mir der sich jetzt andeutende Sinneswandel. Der dürfte letztlich der schwierigen eigenen Lage der Hamas geschuldet sein.

Mit dem ehemaligen Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes und Vermittler bei früheren Geiselverhandlungen mit der Hamas sprach Michael Thaidigsmann.

Berlin

Friedrich Merz besucht Israel

Als Kanzler ist es sein erster Aufenthalt im jüdischen Staat. Die Beziehungen hatten zuletzt unter Druck gestanden

 25.11.2025

TV-Tipp

Ein äußerst untypischer Oligarch: Arte-Doku zeigt Lebensweg des Telegram-Gründers Pawel Durow

Der Dokumentarfilm »Telegram - Das dunkle Imperium von Pawel Durow« erzählt auf Arte und in der ARD-Mediathek die Geschichte der schwer fassbaren Messengerdienst-Plattform-Mischung und ihres Gründers Pawel Durow

von Christian Bartels  25.11.2025

Israel

Antisemitismus-Beauftragter wirft Sophie von der Tann Verharmlosung der Hamas-Massaker vor

Die ARD-Journalistin soll in einem Hintergrundgespräch gesagt haben, dass die Massaker vom 7. Oktober eine »Vorgeschichte« habe, die bis zum Zerfall des Osmanischen Reiches zurückreiche

 25.11.2025

Interview

»Weder die Verwaltung noch die Politik stehen an meiner Seite«

Stefan Hensel hat seinen Rücktritt als Antisemitismusbeauftragter Hamburgs angekündigt. Ein Gespräch über die Folgen des 7. Oktober, den Kampf gegen Windmühlen und kleine Gesten der Solidarität

von Joshua Schultheis  25.11.2025

Ramallah

Nach Hammer-Angriff auf Israeli - mutmaßlicher Täter getötet

Vor mehr als einem Jahr kam ein israelischer Wachmann im Westjordanland bei einem Angriff ums Leben. Seitdem haben israelische Sicherheitskräfte nach dem flüchtigen Täter gesucht

 25.11.2025

Orange Day

Palina Rojinski spricht über Gewalt in früherer Beziehung

Wie viele Frauen hat auch die Moderatorin einst in einer Beziehung Gewalt durch ihren Partner erfahren. Darüber spricht sie nun auf Instagram. Sie will anderen Mut machen, sich Hilfe zu holen

 25.11.2025

Entscheidung

Berlin benennt Platz nach Margot Friedländer

Jahrzehntelang engagierte sich die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer für Aussöhnung. Nun erfährt die Berlinerin nach ihrem Tod eine besondere Ehrung

 25.11.2025

Hanau

Rabbiner antisemitisch beleidigt

Für die Gemeinde ist die Pöbel-Attacke kein Einzelfall

 25.11.2025

Berlin

RIAS: Polizei erfasst antisemitische Taten lückenhaft

Der Bundesverband sagt, es gebe strukturelle Probleme, Unsicherheiten im Umgang mit Betroffenen und ein insgesamt unzureichendes Bild antisemitischer Hasskriminalität in den offiziellen Statistiken

 25.11.2025