Gedenken

Ein Stein stößt an

Ende November in Zeitz neu verlegt: die Stolpersteine für die Familie Mendelsohn Foto: picture alliance/dpa

Es war die wohl aufsehenerregendste Schändung von Stolpersteinen im Jahr 2024: In Zeitz, Sachsen-Anhalt, stahlen Unbekannte in einer Nacht Anfang Oktober zehn der kleinen goldfarbenen Messingplatten, die an Opfer des nationalsozialistischen Regimes erinnern sollen. Alle Stolpersteine in der Kleinstadt im Burgenlandkreis fehlten am nächsten Tag. Die Täter wurden nie ermittelt.

Als die Steine in Zeitz Ende November neu verlegt wurden, gaben sich örtliche Kommunalpolitiker überrascht und auch ein wenig verdrossen, dass ihre Gemeinde bundesweit in die Schlagzeilen geraten war: Für ihn habe sich die Tat nicht angekündigt, ließ sich Oberbürgermeister Christian Thieme (CDU) zitieren. Er nehme auch grundsätzlich keine antisemitische Problematik in der Stadt wahr. Der Grünen-Landtagsabgeordnete Sebastian Striegel sagte dagegen: »Antisemitismus ist kein fernes Problem, sondern eine tagesaktuelle Gefahr.«

Ein Fall von vielen

Zeitz war im zurückliegenden Jahr längst nicht der einzige Vorfall dieser Art. Nur eine Auswahl: In Seelze bei Hannover verschwanden erst im Sommer eingesetzte Stolpersteine. Anfang November wurden in Essen, Nordrhein-Westfalen, unmittelbar vor dem Jahrestag der Reichspogromnacht in zwei Straßen insgesamt sieben Stolpersteine mit roter Graffiti­farbe übersprüht. Auch wenn hier ebenfalls die Täter nicht ermittelt werden konnten: Die Initiative »Essen stellt sich quer« ist von der »antisemitischen Motivation der Verursacher« überzeugt.

In Tangermünde, Sachsen-Anhalt, versuchten Unbekannte Mitte November, im Juni neu verlegte Stolpersteine herauszureißen. Ebenfalls im November wurde – kurz vor vier Uhr in der Nacht – im thüringischen Weimar mit einem Winkelschleifer der Schriftzug eines Stolpersteins unkenntlich gemacht. Dieser erinnerte an den jüdischen Textilwarenhändler Karl Sach, der noch 1940 vor dem NS-Regime nach China entkommen konnte. Eine Anwohnerin sprach den Täter noch an. Der aber flüchtete und konnte nicht ermittelt werden.

Zuletzt machte Dresden Anfang des Monats Negativschlagzeilen: Der Stolperstein für die Jüdin Margarete Schreiber wurde gestohlen. Sie war im März 1943 vom Güterbahnhof Dresden-Neustadt nach Auschwitz deportiert und dort ermordet worden. Kulturbürgermeisterin Annekatrin Klepsch (Linke) nannte den Diebstahl des Stolpersteins einen »politisch motivierten Angriff auf die Erinnerungskultur in der Landeshauptstadt Dresden«.

85.000 Steine in Deutschland

Wächst die Zahl der Schändungen von Stolpersteinen bundesweit? Der Eindruck könnte sich aufdrängen. Und er würde dazu passen, dass der Antisemitismus insgesamt zuletzt stark zugenommen hat, erst recht seit dem 7. Oktober 2023, dem Terror der Hamas gegen Israel: Eben erst hat das Deutsche Institut für Menschenrechte in einem Bericht zu den Folgen des 7. Oktober 2023 festgestellt, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland seither »Empathielosigkeit und Entsolidarisierung der Gesellschaft sowie einen deutlichen Anstieg von antisemitischem Hass, antisemitischer Gewalt und Vernichtungsdrohungen« erleben.

Und doch widerspricht die Geschäftsführerin der »Stolperstein«-Stiftung »Spuren« Katja Demnig, deren Mann Gunter vor fast drei Jahrzehnten das Kunstprojekt »Stolpersteine« gestartet hat. Etwa 113.000 Stolpersteine wurden seither in ganz Europa verlegt, davon etwas mehr als 85.000 in Deutschland.

In Zeitz wurden alle zehn Stolpersteine des Ortes in einer Nacht entwendet.

Sie beobachte »keine wachsende Zahl der Schändungen von Stolpersteinen«, sagte Katja Demnig der Jüdischen Allgemeinen. Zeitz sei insofern »ein Phänomen«, doch halte sich insgesamt die Zahl der herausgerissenen oder beschmierten Stolpersteine gemessen an der Gesamtzahl »extrem im Rahmen«.

In früheren Jahren sei es »viel schlimmer« gewesen, oft zu »berühmten Tagen«, wie sie es nennt: dem Holocaust-Gedenktag am 27. Januar, Hitlers Geburtstag am 20. April oder auch dem Jahrestag der Reichspogromnacht. Aber selbst dann habe die Zahl der Schändungen immer nur im maximal niedrigen zweistelligen Bereich gelegen. Zudem könne sie bei den Anschlägen auf die Stolpersteine keine Unterschiede zwischen Ost und West feststellen, sagt Demnig im hessischen Vogelsberg-Kreis.

Widerstände gegen die Verlegung

Auch ein Blick ins Archiv belegt, dass die Geschichte der Schändungen von Stolpersteinen so lang ist wie die Geschichte des Projekts selbst. Beispielsweise machte im November 2017 der »Spiegel« es zum Thema eines langen Berichts, dass in Berlin-Neukölln 16 Stolpersteine aus dem Gehweg gegraben und entwendet wurden, hier zum Teil auch die von KPD-Funktionären und anderen Widerstandskämpfern. »Dass Stolpersteine entwendet oder beschädigt werden, ist nichts Neues, weder in der Hauptstadt noch in anderen Teilen der Republik«, hieß es damals.

Zur Geschichte der Stolpersteine gehört auch, dass es immer wieder Widerstände gegen deren Verlegung gibt. Zum Beispiel 2019 in Groitzsch bei Leipzig zur Erinnerung an die Jüdin Anna Reichardt: Angeblich fehlte die Zustimmung des Hauseigentümers.

Hinzu kommt, dass auch unbedacht mit Schändungen umgegangen wird: 2021 wurden im sachsen-anhaltischen Stendal zwei Stolpersteine beschmiert – da die Farbe rückstandsfrei entfernt werden konnte, verzichtete die Stadt auf eine Anzeige des Vorfalls.

Andreas Froese, Leiter der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora im thüringischen Nordhausen, sagte der Jüdischen Allgemeinen, die von den Stolpersteinen ausgehenden positiven Impulse seien nicht zu unterschätzen, gerade in Kleinstädten und im ländlichen Raum, wo die Zivilgesellschaft nicht so stark oder gar nicht vorhanden sei. »Ein Anschlag auf Stolpersteine ist nicht nur ein Anschlag auf die Menschen, an die erinnert werden soll, sondern auch auf die örtlichen Initiativen, die sich für das Gedenken einsetzen«, so Froese. »Es ist der Versuch einer rechtsextremen Raumnahme.«

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