Interview

»Die Genozid-Rhetorik hat eine unglaubliche Sprengkraft«

Peter Neumann in der ZDF-Sendung »Markus Lanz« Foto: picture alliance / teutopress

Herr Neumann, müssen wir uns auch in Deutschland auf Anschläge wie dem von Sydney am Sonntag einstellen?
Wir erleben seit einer ganzen Weile eine starke Zunahme an Anschlagsversuchen. Gott sei Dank ist in vielen Fällen nichts passiert, weil es bei den Plänen geblieben ist und die Anschläge verhindert wurden. Aber klar ist auch: Die Einschläge werden häufiger.

Wie konkret ist die Bedrohungslage für jüdische Menschen und Einrichtungen?
Sie stehen leider sehr häufig im Fokus. Ich schätze, dass von den Anschlägen und versuchten Anschlägen der letzten zwei Jahre in Europa mindestens 40 Prozent jüdischen und israelischen Zielen gegolten haben. Das ist sehr viel und hat natürlich auch mit dem Konflikt im Nahen Osten zu tun. Deswegen sage ich immer wieder, dass man diese islamistische Bedrohung nicht aus dem Blick lassen darf, zumal ja die jüdischen Gemeinden von zwei Varianten betroffen sind: dem Islamischen Staat (IS) einerseits und dem Iran und seinen Proxys andererseits.

Gibt es Schnittmengen bei diesen beiden Gruppen?
Nein, eigentlich fast keine. Die operieren unabhängig voneinander. Wenn überhaupt, dann liegt die Schnittmenge in der gemeinsamen Zielscheibe, nämlich alles, was mit Israel und Juden zu tun hat. Abgesehen davon will der IS mit dem Iran nichts zu tun haben – auch wenn beide ideologisch die Idee des gewaltsamen Dschihad propagieren.

Muss man angesichts der ausführlichen Medienberichterstattung über das Massaker mit Nachahmungstaten rechnen?
Die Gefahr besteht immer. Zwar passieren Terroranschläge nicht so häufig, wie man manchmal den Eindruck hat. Aber fast jeder wird in der Absicht ausgeführt, weitere solcher Anschläge zu inspirieren. Attentäter senden das Signal aus: »Schaut her, wenn wir das können, könnt ihr es auch«. 2015 wurde in Nizza ein Terroranschlag mit einem LKW verübt. Zuvor hatte es keine solch schwerwiegenden Taten mit Fahrzeugen gegeben. Anschließend kam es innerhalb von zwölf Monaten zu einem Dutzend weiterer Attacken dieser Art. Es gab also einen Nachahmereffekt. Deswegen muss man nach Attentaten wie dem von Sydney immer besonders vorsichtig sein.

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Die beiden Attentäter waren Vater und Sohn, was ja eher unüblich ist. Könnte sich nun innerhalb von Familien Nachahmer finden?
Das ist schwer zu sagen. Meines Wissens gab es in letzter Zeit nur einen einzigen ähnlich gelagerten Fall, in Nordrhein-Westfalen, der vor kurzem vor Gericht verhandelt wurde. Da inspirierte ein IS-bekannter Vater seine Tochter, in Chatgruppen Leute zu radikalisieren und Anschläge zu planen. Ich halte das dennoch für sehr ungewöhnlich. Denn bei der Radikalisierung im Sinne des IS ist es häufig so, dass Eltern große Probleme mit den Aktivitäten ihrer Kinder haben, weil das meist damit einhergeht, dass sich die Kinder von der Familie lossagen und mit den Eltern nichts mehr zu tun haben wollen. Hier war es offensichtlich anders. Ich wäre aber überrascht, wenn jetzt plötzlich viele solche Vater-Sohn-Teams auftauchen würden. Auszuschließen ist es nicht. Interessant wird jetzt sein herauszufinden, wer da wen radikalisiert hat: der Sohn den Vater oder umgekehrt.

Einer der beiden Attentäter fiel den australischen Behörden bereits vor sechs Jahren auf. Konnte man im Vorfeld nicht mehr tun, um dieses Massaker zu verhindern?
Nach dem, was bislang bekannt ist, gab es vor der Tat keinerlei Hinweise darauf, dass der Sohn eine Anweisung bekommen hätte, diesen Anschlag auszuführen. Wir wissen ja noch nicht, ob die beiden überhaupt Teil eines weiteren Netzwerks waren. Man muss die Auswertung der Handys und Computer abwarten. Dann kann man möglicherweise sehen, ob es kommunikative Verbindungen nach Syrien oder zu anderen einschlägig bekannten Ländern gab und mit welchen Leuten die Attentäter Kontakte dorthin pflegten. Ebenso wird interessant sein, ob sich der IS in seinem wöchentlichen Newsletter, der immer donnerstags erscheint, zu diesem Anschlag bekennt und ob er die beiden nur als »Märtyrer« beschreibt oder als »Soldaten«. Letzteres würde darauf hindeuten, dass es einen Kontakt mit dem IS gab oder vielleicht sogar ein Eid geschworen wurde, wie das zum Beispiel beim Attentäter von Solingen der Fall war.

Viele Menschen brachten Blumen und Botschaften an den Ort des MassakersFoto: picture alliance / REUTERS

Ist Deutschland heute besser gegen mögliche Terrorakte gewappnet als noch vor ein paar Jahren?
Vor zehn Jahren konnten sich radikale Prediger offen im Land bewegen und in Moscheen Menschen für den Dschihad anwerben. Das ist viel weniger geworden. Vieles hat sich ins Internet verlagert. In den sozialen Medien und auch in geschlossenen Chatgruppen, zum Beispiel auf Telegram, ist aber viel los. Hier könnten die deutschen Behörden noch aktiver werden.

Inwiefern?
Es bräuchte mehr »virtuelle Agenten«, also Mitarbeiter von Polizei und Verfassungsschutz, die diese Chaträume infiltrieren, genauso wie sie früher eine radikale Moschee infiltriert haben. Nur so kann man Dinge herausfinden. Wenn man das nicht macht, ist man immer auf die Hinweise von amerikanischen und israelischen Geheimdiensten angewiesen.

Welchen Stellenwert hat die Aufstachelung zur Gewalt in anderen Kreisen, beispielsweise Aufrufe wie »Globalize the Intifada« bei Demonstrationen? Hat das mit dem Dschihadismus überhaupt etwas zu tun?
Es ist für konkrete Gewalttaten nicht unbedingt ursächlich. Aber es bildet natürlich das Grundrauschen, das quasi die Rechtfertigung für Gewaltakte schafft. Das Argument lautet: »Die Juden bringen unsere Brüder und Schwestern um« oder »Die Juden löschen uns aus«. Die Botschaft der Terror-Rekrutierer ist immer die: »Du musst dich dem mit Waffengewalt widersetzen« oder »Du musst die Juden dort angreifen, wo du sie findest, nicht nur in Palästina, sondern auch vor Ort, in deiner Stadt, du musst ihnen zeigen, dass alles einen Preis hat.« So läuft die Ansprache. Natürlich wird sie unterfüttert von der Anti-Israel-Bewegung, die dasselbe Narrativ befördert, ohne direkt zum Terrorismus aufzurufen. Die Dschihadisten des IS müssen die Leute nicht mehr überzeugen. Sie müssen sie nur noch abholen und »scharfmachen«, um Aktionen durchzuführen. Die Überzeugungsarbeit wurde vorab von anderen geleistet, die sich gar nicht mit dem IS identifizieren.

Welche Rolle spielt die zum Teil harsche Kritik an Israel und seinem Vorgehen in Gaza? Vergießen einige nicht gerade Krokodilstränen über die Opfer von Sydney?
Ich nehmen den meisten schon ab, dass sie das, was in Sydney stattgefunden hat, nicht gut finden. Aber auf der anderen Seite sollte man sich schon Gedanken machen, was die eigene Rhetorik anrichten kann. Man sollte sich fragen, inwiefern man den Rahmen der noch legitimen Kritik an Israel verlässt und sich mit der Genozid-Rhetorik überschlägt. Dieses Wort hat nämlich eine unglaubliche Sprengkraft. Wenn behauptet wird, Israel oder die Juden verübten einen Genozid, dient das dazu, Gewalt zu rechtfertigen. Ich warne schon seit Langem, dass mit dem Genozid-Begriff viel zu locker umgegangen wird. Er trägt dazu bei, dass eine Wut entsteht, die von Dschihadisten ausgeschlachet wird.

Seit einigen Wochen gibt es in Gaza einen Waffenstillstand. Dennoch hat sich an der Rhetorik und am Demonstrationsgeschehen wenig verändert. Auch Antisemitismus wird weiter ganz offen geäußert. Warum sehen wir keinen Rückgang?
Zwei Jahre an aggressiver Rhetorik gegen Israel werden nicht von einem Tag auf den anderen aufhören. Was in den letzten zwei Jahren passiert ist, hat zur Schaffung einer Bewegung beigetragen. Und natürlich wurde der Antisemitismus wieder reaktiviert und auf eine viel breitere Basis gestellt. In Amerika sind laut einer Umfrage mehr junge Leute antisemitisch eingestellt denn je zuvor. In Europa ist das wahrscheinlich ähnlich. Das ist sozusagen das Vermächtnis der letzten zwei Jahre. Und vermutlich werden jüdische Gemeinden überall in der Welt noch auf viele Jahre hinaus die Leidtragenden sein.

Mit dem Terrorismusexperten und Professor für Sicherheitsstudien am Londoner King’s College sprach Michael Thaidigsmann.

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