Interview

»Der Wirtschaft darf es nicht egal sein, wenn der Antisemitismus um sich greift«

Die Grünen-Politikerin Mona Neubaur ist seit 2022 stellvertretende Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen Foto: picture alliance/dpa

Frau Neubaur, was ging in Ihnen vor, als sie von den Terroranschlägen in Israel am 7. Oktober erfuhren?
Mich hat das schwer erschüttert. Die Hamas hat uns alle gezwungen, Zeuge ihrer grausamen Verbrechen zu werden, indem sie ihre Taten auf Video dokumentiert und über soziale Netzwerke in die Welt getragen hat. Dieser Terrorangriff hatte eine ganz neue Dimension. Die Bilder, die Nachrichten von diesen barbarischen Gewaltakten, die Entführungen, die Vergewaltigungen und Misshandlungen, die brutale Entmenschlichung, das alles war kaum zu aushalten, es ist immer noch kaum auszuhalten

Die deutsche Politik hat sich einhellig an die Seite Israels gestellt; Ihr Parteifreund Robert Habeck hat ein viel beachtetes Video veröffentlicht. Trotzdem hat man das Gefühl, dass die Stimmung in der Bevölkerung nicht ganz so eindeutig ist. Anders als beim russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine gibt es kaum Großdemonstrationen für Israel, im Gegenteil: Die meisten Kundgebungen sind offen israelfeindlich. Was tun Sie konkret?
Wir müssen staatliches Handeln mit Leben erfüllen, also klare Haltung zeigen und zugleich konkrete Maßnahmen ergreifen. Als nordrhein-westfälische Landesregierung haben wir deshalb gerade einen 10-Punkte-Plan beschlossen, der beides zusammenführt. Dazu gehört auch, die Zivilgesellschaft auf- und von ihr auch einzufordern, klar Stellung zu beziehen. Und ja, die Zivilgesellschaft müsste sich eindeutiger positionieren. Unsere Solidarität muss sichtbarer und entschlossener werden. Das wäre die beste Antwort auf die Bilder, die mit den Anti-Israel-Demos hierzulande leider produziert werden.

Gilt das auch für die muslimischen Verbände in Deutschland? Von denen waren einige ja sehr still.
Ja, das gilt auch für sie. In Deutschland leben viele Muslime, die selbst vor islamistischem Terror geflohen sind. Die sehen jetzt in den Nachrichten oder vor ihrer eigenen Haustür, wie hier auf deutschen Straßen islamistischer Terror und dieses Gedankengut verherrlicht oder verteidigt wird. Viele holt so ein, wovor sie geflüchtet sind. Und so schwierig es für manche auch sein mag: Angesichts des Terrors vom 7. Oktober erwarte ich Klarheit und keine Relativierungen der muslimischen Community und ihrer Verbandsspitzen. 

Waren Sie enttäuscht von der Reaktion der muslimischen Verbände?
Aus dem direkten Gespräch mit Kollegen oder Freunden weiß ich, dass sich viele gläubige Muslime sehr eindeutig positionieren. Sie wollen Frieden zwischen Juden und Muslimen. Für sie steht auch das Existenzrecht Israels nicht zur Disposition. Und viele fühlen sich gar nicht oder eher schlecht repräsentiert von den einigen Verbänden, weil die sehr zögerlich und viel zu spät reagiert haben auf die Ereignisse des 7. Oktober. Und weil sie auch nicht immer die Interessen der hier lebenden Muslime im Blick haben.

Braucht es im Hinblick auf das deutsche Verhältnis zu Israel auch eine »Zeitenwende«?
Nein, aber es braucht den täglichen Einsatz aller, auch von mir als Ministerin in Nordrhein-Westfalen. Wir haben noch einiges zu tun. Zum Beispiel müssen wir die Frage beantworten, wie wir in einer sehr diversen, heterogenen Gesellschaft besser über die Verbrechen der Nationalsozialisten aufklären können, um Antisemitismus in allen gesellschaftlichen Bereichen entgegen zu wirken. Und wie wir denen, die zu uns kommen, unsere Maxime von Israels Existenzrecht als deutscher Staatsräson, vermitteln können.

Einige scheinen ja genau damit nicht einverstanden zu sein, wenn man sich die Kundgebungen der letzten Wochen, auch in Ihrem Bundesland, anschaut …
Die sind auch mit nichts zu entschuldigen und nicht zu tolerieren! Antisemitismus auf offener Bühne, auf unseren Straßen unter dem Deckmantel der Versammlungsfreiheit auszuleben, das geht nicht. Wir brauchen einen klar handelnden Rechtsstaat, der alle Möglichkeiten ausschöpft, die das Strafrecht bietet. Mein Kabinettskollege, Innenminister Herbert Reul, geht sehr entschlossen vor. Wir müssen uns aber selbstkritisch fragen, an welcher Stelle wir bislang zu wenig wahrgenommen haben, dass viele Menschen aus Staaten des Nahen und Mittleren Ostens ihren dort erlernten Judenhass zu uns mitgebracht haben. Es muss für jeden, der hier lebt klar sein, dass Antisemitismus in dieser Republik keinen Platz hat. Denn zu dieser Republik gehört jüdisches Leben in Freiheit und Sicherheit ganz unabdingbar dazu.

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In Essen waren am Wochenende Leute mit der Flaggen der Terrorgruppe Islamischer Staat unterwegs. Müsste die Polizei nicht viel härter dagegen vorgehen und solche Kundgebungen sofort auflösen?
Straftaten, die bei solchen Demonstrationen stattfinden, zum Beispiel hetzerische Äußerungen oder durch das Zeigen gewisser Symbole, werden konsequent verfolgt – auch im Nachhinein. Und es braucht klare Auflagen für solche Aufmärsche. Diejenigen, die sich daran nicht halten oder öffentlich antisemitisch auftreten, müssen damit rechnen, dass der Rechtsstaat sie anschließend zur Rechenschaft zieht.

Bundeskanzler Olaf Scholz hat neulich gesagt »Wir müssen im großen Stil abschieben«. Sollten Leute, die sich mit antiisraelischen, hetzerischen Einlassungen auffallen und keine Staatsbürgerschaft oder ein Bleiberecht in Deutschland haben, vorrangig abgeschoben werden?
Man muss das differenziert betrachten. Diejenigen, die antisemitisch auf Demonstrationen agieren, müssen zuallererst strafrechtliche Konsequenzen zu spüren bekommen. Der simple Ruf nach Abschiebung ist zu kurz gedacht. Denn viele von denen, die da unterwegs waren, sind deutsche Staatsbürger oder können aus anderen Gründen nicht abgeschoben werden. Denjenigen, die in einer Erwartung eines Aufenthaltstitels sind, muss man aber klipp und klar sagen: Damit habt ihr einen Grund geliefert, rückgeführt zu werden. Ich halte das für einen substanziellen Punkt, denn es geht da um Straftaten und nicht um Lappalien. Es ist richtig, dass unser Rechtsstaat hier entschlossen auftritt.

Sind die aktuellen Vorkommnisse nicht ein gefundenes Fressen für die AfD?
Es ist kaum zu ertragen, dass eine zu Recht vom Verfassungsschutz beobachtete, in weiten Teilen rechtsextreme Partei jetzt so tut, als läge ihr die Sicherheit Israels oder der Juden in Deutschland am Herzen. Erst am Dienstag hat der Verfassungsschutz die AfD Sachsen-Anhalt nach der in Thüringen als erwiesen rechtsextremistisch eingestuft. Eine Partei, die die Schreckensherrschaft der Nazis als »Fliegenschiss« beschreibt und vom »deutschen Schuldkult« faselt, sollte sich eher um den Antisemitismus in den eigenen Reihen kümmern.

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Aber ist das Thema Zuwanderung nicht eines, das viele Menschen im Moment als das wichtigste ansehen?
Ja, die Herausforderungen sind gewaltig. Aber es reicht nicht, einfache Parolen zu rufen. Deutschland ist ein von Zuwanderung geprägtes Land. Wir müssen diese Vielfalt aber besser moderieren. Alle staatlichen Ebenen sind gefordert, sich mehr ins Zeug zu legen. Lange dachten wir, das läuft doch ganz gut bei uns. Eine Fehleinschätzung. Wir müssen neu nachdenken. Wie können wir auch jenen, die nicht hier geboren wurden, sondern vielleicht eine ganz andere Vorgeschichte haben, vermitteln, dass es bei bestimmten Punkten eine klare Haltung gibt, an der nicht gerüttelt werden kann? Wer hier in Deutschland lebt, hat natürlich Rechte, aber auch staatsbürgerliche Pflichten. Das Existenzrecht Israels ist kein Nice-to-have. Denn Israel ist für Jüdinnen und Juden weltweit ein Zufluchtsort, der letzte verbliebene Schutzraum. Der Terror der Hamas und anderer Kräfte in der Region will ihnen diesen Zufluchtsort nehmen. Man kann natürlich Kritik am Handeln der israelischen Regierung üben. Darüber aber das Existenzrecht Israels in Frage zu stellen, ist ein absolutes No-Go.

Was können Sie als Wirtschaftsministerin in so einer Situation konkret tun?
Wir haben in Nordrhein-Westfalen rund 700.000 Betriebe. Und ich sehe es als meine Aufgabe an, dem Mittelstand und der Industrie deutlich zu machen, wie sehr unser wirtschaftlicher Erfolg davon abhängt, dass sich alle Menschen hier sicher und frei fühlen können. Es ist doch einfach unerträglich, wenn sich aktuell viele jüdische Eltern hier nicht mehr trauen, ihre Kinder in den Kindergarten zu schicken. Oder dass junge Juden die Kippa nicht mehr tragen, weil sie Angst haben. Auch der Wirtschaft, dem Handwerk, darf es nicht egal sein, wenn der Antisemitismus um sich greift. Das andere ist, dass wir die guten wirtschaftlichen Beziehungen Nordrhein-Westfalens mit Israel weiter ausbauen. Wir sehen da ganz viele positive Effekte. 

Zum Beispiel?
Die Außenhandelskammern arbeiten eng mit der Start-up-Szene in Tel Aviv zusammen. Und wir haben jetzt das EFRE-Programm der EU zur regionalen Entwicklung geöffnet für Projekte, die mittelständische Unternehmen in Israel mit Unternehmen in Nordrhein-Westfalen zusammenbringen sollen. Denn unabhängig von der Krisensituation ist es wichtig, die wirtschaftlichen Beziehungen und den Handel weiter zu stärken. Israel braucht eine robuste Wirtschaft, um stark sein zu können. 

Haben Sie denn aus Unternehmen in NRW bereits Rückmeldung oder Anregungen erhalten?
Ja, es gibt ein großes Interesse. Wir haben zum Beispiel Unternehmen, die Rettungsfahrzeuge oder Feuerwehrautos nach Israel liefern wollen. Die kommen auf uns oder die Auslandshandelskammern zu und fragen, wie das konkret ablaufen kann und wann zum Beispiel der Cargo-Flugbetrieb nach Israel wiederaufgenommen wird.

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Ein Wort noch zur Bundespolitik. Die Koalitionsvereinbarung der Ampel sieht vor, dass Deutschland bei den Vereinten Nationen Israel gegen einseitige Resolutionen in Schutz nimmt. Bei einer Resolution der Vollversammlung, in der die Hamas gar nicht beim Namen genannt wird, hat Berlin sich aber der Stimme enthalten, was Unverständnis und Kritik ausgelöst hat. Hätten Sie anders abgestimmt als Außenministerin Annalena Baerbock?
Die Bundesregierung hat mit ihrem Abstimmungsverhalten in jedem Fall für Erklärungsbedarf gesorgt. 

Das ist jetzt sehr diplomatisch formuliert.
Die Außenministerin hat nachvollziehbar erklärt, warum die Bundesregierung sich enthalten hat. Denn wenn die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson ist, dann muss Deutschland auf internationaler Bühne deutlich machen, dass es eine klare Ursachenbeschreibung braucht. Und die Ursache für die aktuelle Lage ist nun einmal der Terror der Hamas. Der muss jetzt beendet werden.

Einige in Deutschland kritisieren, meist hinter vorgehaltener Hand, angebliche »Sprechverbote« zum Thema Israel. Begegnet Ihnen so etwas auch?
Auch vor dem 7. Oktober gab es keine Entschuldigung für antisemitische Äußerungen. Seit dem 7. Oktober müssen wir noch eindeutiger sein, wenn es darum geht, dass Antisemitismus hier keinen Platz hat. Für mich gilt ohne Wenn und Aber: Nie wieder ist jetzt!

Mit der stellvertretenden Ministerpräsidentin und Wirtschaftsministerin Nordrhein-Westfalens sprach Michael Thaidigsmann.

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