Krise

»Der Ukraine verpflichtet«

Sergey Lagodinsky Foto: Tom Athenstaedt

Krise

»Der Ukraine verpflichtet«

Sergey Lagodinsky über deutsche Waffenlieferungen an Kiew und die Gefahr eines russischen Angriffs

von Michael Thaidigsmann  03.02.2022 08:31 Uhr

Herr Lagodinsky, wie groß ist die Gefahr, dass Russland die Ukraine angreift?
Das kann nur Wladimir Putin sagen. Fakt ist ja: Russland hält schon jetzt Teile der Ukraine besetzt. Die anstehende Intervention kann verschiedene Formen annehmen. Ich halte die Abspaltung von de facto bereits besetzten Gebieten wie dem Donbass für wahrscheinlicher als eine Belagerung von Kiew.

Kann sich Deutschland aus diesem Konflikt einfach heraushalten?
Das kann es nicht, und das tut es auch nicht. Wir sind Teil der NATO und der EU, wir entscheiden dort mit. Deutschland ist auch eine treibende Kraft in festen Gesprächsrunden wie dem Normandie-Format. Es ist wichtiger Handelspartner Russlands und gleichzeitig Unterstützer der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung.

Die Bundesregierung will der Ukraine keine Waffen liefern, auch nicht zur Verteidigung. Salopp gefragt: außer 5000 Helmen nichts gewesen?
Die Bundesregierung folgt der seit den 70er-Jahren bestehenden Tradition, dass Waffen nicht in Gebiete geliefert werden, in denen Konflikte stattfinden oder unmittelbar bevorstehen. Dieses Prinzip wird aus meiner Sicht aber zu holzschnittartig angewendet. Wir müssen flexibel genug sein, um den potenziellen Opfern einer Aggression bei der Selbstverteidigung zu helfen. Wenn der Angreifer weiß, dass der Angegriffene schutzlos ist, fällt ihm der Angriff leichter.

Auch Außenministerin Annalena Baerbock ist gegen Waffenlieferungen. Vizekanzler Robert Habeck forderte dagegen noch im Mai 2021 Defensivwaffen für die Ukraine. Wollte Ihre Partei nicht die deutsche Außenpolitik neu ausrichten?
Die nötigen Korrekturen sind da. Und obwohl ich in der konkreten Frage eher auf Habecks Seite bin: Man gestaltet Außenpolitik nicht mit Waffenlieferungen allein. Baerbocks klare Haltung ist mit der der früheren Bundesregierung nicht zu vergleichen. Wir Grünen haben es geschafft, härtere Sanktionen gegen Russland vorzubereiten – zum Ärger der SPD. Wir brauchen aber eine Debatte, was es bedeutet, das größte EU-Land zu sein und Verantwortung zu übernehmen.

Interpretieren die Deutschen »Nie wieder Krieg!« falsch?
Ich frage mich, inwiefern diese Maxime in der jetzigen Situation zu einem belehrenden »Nie wieder Selbstverteidigung!« verkommt. Dass wir als Deutsche gelernt haben, keine Angriffskriege mehr zu führen, ist ein wichtiger Baustein der Nachkriegsordnung. Allerdings richtet sich diese Lehre an uns selbst, nicht an jene, die in Not geraten sind. Für alle, die einen Hang zu moralischen Zeigefingern in Richtung Ukraine haben, habe ich noch eine Lehre: »Nie wieder Chamberlain!« Denn Frieden durch Beschwichtigung aggressiver Mächte und auf Kosten kleinerer Staaten ist nie von Dauer. Deutschland ist historisch der Ukraine nicht weniger verpflichtet als Russland.

Häufig ist von Israels Sicherheit als deutscher »Staatsräson« die Rede. Gilt das angesichts der Geschichte nicht auch für Ukraine, auf dessen Territorium Nazi-Deutschland einen Vernichtungskrieg geführt hat?
»Staatsräson« ist schon in Bezug auf Israel eine moralisch verständliche, aber recht abstrakte Floskel. Dennoch ist Deutschland der Ukraine nicht weniger historisch verpflichtet als Russland. Die »besondere Verpflichtung« gegenüber Moskau, von der ich in Deutschland immer wieder höre, ist - mit Verlaub – eine erinnerungsgeschichtliche Folklore. Sie wird von Menschen propagiert, die keine Ahnung haben, was die Sowjetunion war und wie sie funktionierte.

Was meinen Sie damit konkret?
Wir dürfen nicht in alten Verhaltensmustern verharren. Deutsche Geschichtslehren sind kein lineares Gesetzbuch, sondern ein Koordinatensystem mit vielen Achsen, die Orientierung geben. Aber die Positionierung ist nicht so klar und eindeutig, wie manche Ideologen das meinen. Das würde den Komplexitäten der Geschichte nicht gerecht. Damit zurecht zu kommen, ist eine Aufgabe für ganz Deutschland, nicht nur für unsere Partei.  

Europa hat Russland gegenüber bislang keine einheitliche Position gefunden – ein Grund dafür ist Deutschland. Was sollte Brüssel tun, und über welche Optionen verfügt es?
Ich sehe hier keine Diskrepanzen. Europäische Staaten sind Teil der NATO. Sie sind in ihren Reaktionen klar und deutlich. Ich würde die Frage der Waffenlieferungen - trotz aller berechtigten Kritik - nun wirklich nicht überhöhen. Deutschlands Position in dieser Krise ist sehr klar. Ich finde es übrigens richtig, dass die Bundesregierung großen Wert auf die wirtschaftliche Stabilisierung der Ukraine legt. Denn nichts wäre dem Kreml genehmer, als das Land innenpolitisch zu destabilisieren und die proeuropäischen Kräfte zu stürzen.

Wenn es ganz allein nach Ihnen ginge: Was würden Sie tun, um den Konflikt im Osten Europas zu entschärfen?
Ruhiger werden. Nicht bei jeder Äußerung Putins Schnappatmung bekommen.  Sondern stattdessen eine klare Linie fahren, die die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine etwa mit Hilfe der NATO-Partner stärkt, sie wirtschaftlich stabilisiert und ihr eine europäische Perspektive eröffnet, etwa energiepolitisch durch grüne Projekte und starke Investitionen.

Würde man Putin damit nicht nur noch mehr reizen?
Er hat schon jetzt einen Sieg errungen, weil er sich wieder als europäischen Machtfaktor positioniert hat, mittelfristig zumindest. Aber er hat auch eine große, längerfristige Niederlage erlitten: Europa und die NATO sind geeinter denn je. Die Sicherheit der Ukraine wird als Priorität betrachtet. Und die EU wird künftig alles tun, um strategische Abhängigkeiten von Russland, etwa im Energiesektor, zu reduzieren. Der Schuss ist also nach hinten losgegangen.

Mit dem Europaabgeordneten der Grünen sprach Michael Thaidigsmann.

Australien

Mann solidarisiert sich mit Sydney-Attentätern – Festnahme

Bei dem Verdächtigen wurden Einkaufslisten für den Bau einer Bombe und Munition gefunden. Es erging bereits Anklage

 24.12.2025

Washington

US-Regierung nimmt deutsche Organisation HateAid ins Visier

Die beiden Leiterinnen wurden wegen angeblicher Zensur amerikanischer Online-Plattformen mit Einreiseverboten belegt. Die Bundesregierung protestiert

 24.12.2025

Großbritannien

Israelfeindlicher Protest: Greta Thunberg festgenommen

In London treffen sich Mitglieder der verbotenen Gruppe Palestine Action zu einer Protestaktion. Auch die schwedische Aktivistin ist dabei. Die Polizei schreitet ein

 23.12.2025

Stockholm

Was bleibt von den Mahnungen der Überlebenden?

Der Schoa-Überlebende Leon Weintraub warnt vor der AfD und Fanatismus weltweit. Was für eine Zukunft hat die deutsche Erinnerungskultur?

von Michael Brandt  23.12.2025

Israel

Netanjahu warnt Türkei

Israel will die Zusammenarbeit mit Griechenland und Zypern stärken. Gleichzeitig richtet der Premier scharfe Worte an Ankara

 23.12.2025

New York

Mitglieder von Mamdanis Team haben Verbindungen zu »antizionistischen« Gruppen

Laut ADL haben mehr als 80 Nominierte entsprechende Kontakte oder eine dokumentierte Vorgeschichte mit israelfeindlichen Äußerungen

 23.12.2025

Düsseldorf

Reul: Bei einer Zusammenarbeit mit der AfD wäre ich weg aus der CDU

Die CDU hat jede koalitionsähnliche Zusammenarbeit mit der AfD strikt ausgeschlossen. Sollte sich daran jemals etwas ändern, will Nordrhein-Westfalens Innenminister persönliche Konsequenzen ziehen

 23.12.2025

Interview

»Diskrepanzen zwischen warmen Worten und konkreten Maßnahmen«

Nach dem Massaker von Sydney fragen sich nicht nur viele Juden: Wie kann es sein, dass es immer wieder zu Anschlägen kommt? Auch der Beauftragte der Bundesregierung gegen Antisemitismus, Felix Klein, sieht Defizite

von Leticia Witte  22.12.2025

Washington D.C.

Kritik an fehlenden Epstein-Dateien: Minister erklärt sich

Am Freitag begann das US-Justizministerium mit der Veröffentlichung von Epstein-Akten. Keine 24 Stunden später fehlen plötzlich mehrere Dateien - angeblich aus einem bestimmten Grund

von Khang Mischke  22.12.2025