Identität

Der eingebildete Jude

Otto Uthgenannt: »Es kann sein, dass nicht alles stimmt, ich war ja ein Kind.« Foto: NWZ

Identität

Der eingebildete Jude

Wie Otto Uthgenannt sich als NS-Opfer inszenierte

von Martin Krauss  18.12.2012 10:39 Uhr

Das Interview beendet Otto Uthgenannt mit »Schalom«. Der heute 77-Jährige aus dem ostfriesischen Wittmund verwendet den Gruß schon lange. Seit Jahren tritt er als Zeitzeuge vor Schülern auf, trägt dabei eine Kippa und erzählt, wie er als jüdisches Kind im KZ Buchenwald überleben konnte.

Doch seine Geschichte ist falsch. Uthgenannt wurde 1935 als Kind einer evangelischen Familie getauft, und weder seine Eltern noch seine drei Jahre jüngere Schwester wurden im KZ ermordet, wie er behauptet. Es gab keine Verfolgung der Familie. Die Schwester lebt weiter in Süddeutschland. Das hat die Nordwest-Zeitung in Oldenburg jetzt herausgefunden.

prüfung Vermutlich saß Uthgenannt Anfang der 90er-Jahre in den USA wegen Scheckfälschung im Gefängnis. Möglicherweise erfand er da seine Geschichte. In Deutschland trat er, ohne je Papiere vorzulegen, in eine jüdische Gemeinde ein. Als er von Hessen nach Oldenburg zog, legte er nur die Bestätigung einer früheren Gemeinde vor. Als passives Mitglied fiel er nicht weiter auf. Nun prüft die Jüdische Gemeinde Oldenburg seine Unterlagen.

Uthgenannt räumt kleine Fehler ein. »Es kann sein, dass nicht alles stimmt, ich war ja ein Kind«, sagt er dieser Zeitung. Er bleibt aber dabei, jüdisch zu sein. »Ich habe einen falschen Taufschein bekommen. Dafür kann ich doch nichts.«

Karsten Krogmann, Reporter der Nordwest-Zeitung, hat Uthgenannts Geschichte minuziös nachrecherchiert: Etwa seine Behauptung, er sei 1940 aus Italien deportiert worden, kann nicht stimmen; und die von ihm genannte Zahl, 1945 seien 202 Kinder in Buchenwald befreit worden, ist historisch falsch, es waren 904. Uthgenannt wischt alles weg. »Wir waren weniger Kinder in Buchenwald.«

Doch den wichtigsten Einwand versucht er gar nicht erst zu entkräften: der Name Uthgenannt ist nirgends registriert. »Nicht in den Datenbanken der Gedenkstätte Yad Vashem, nicht im Gedenkbuch des Bundesarchivs in Koblenz, nicht in den Aktenordnern von Buchenwald«, heißt es in Krogmanns Artikel. Uthgenannt ist empört. »Ich habe so viel getan, ich habe aufgeklärt. Das macht man mir jetzt zum Vorwurf?« Er fügt hinzu: »Wie will man heute noch Jugendlichen erklären, wie es damals war?«

Konvertiten Alles gut gemeint also? Der Historiker Julius Schoeps, Leiter des Moses Mendelsohn Zentrums der Universität Potsdam, sagt: »Solche Fälle gibt es häufiger.« Er erinnert daran, dass es eine Reihe Konvertiten gibt, die eine familiäre Verstrickung ins NS-System ablegen wollten, indem sie eine jüdische Identität annahmen.

Hans Stoffels ist Psychiater in Berlin und forscht zum Krankheitsbild der Pseudologie. Dass sich Menschen eine neue Biografie basteln und die Fälschung am Ende selbst glauben, sei nicht ungewöhnlich, sagt er der Jüdischen Allgemeinen. »Aber warum muss es ausgerechnet die extremste traumatisierende Erfahrung sein? Die eines KZ-Häftlings?«

Stoffels kann nur mutmaßen. 1995 hatte der Schweizer Schriftsteller Bruno Dössekker als »Binjamin Wilkomirski« seine KZ-Erfahrungen als Kind geschildert. Ein Lügengebilde, wie sich bald herausstellte. Stoffels hat sich mit dem Phänomen Wilkomirski auseinandergesetzt. Da sei einer »der Suggestivwirkung des Trauma-Opfer-Daseins« erlegen.

Viktimisierung Das Muster funktioniere so: »Im Opfer-Sein gewinne ich neue Freunde, die mich nicht infrage stellen.« Gerade die Monstrosität des NS-Terrors verbiete es beinah, kritische Nachfragen zu stellen, wenn jemand von seinem Leid berichtet. Der französische Philosoph Pascal Bruckner spricht von »Viktimisierung«: Wer sich zum Opfer mache, habe Anspruch auf moralische Wiedergutmachung.

In Ostfriesland reagieren viele entsetzt auf die Enthüllungen Krogmanns: die Lehrer, die Uthgenannt als »Zeitzeuge« einluden, die Jüdische Gemeinde, der Arbeitskreis »Gedenken« in Wittmund. Einer sagt: »Das ist wirklich kein Thema für Spielchen.« Karsten Krogmann, der das Thema recherchiert hat, berichtet, dass es leider auch rechtsextreme Reaktionen gäbe: als ob der Fall zeige, dass alle Berichte über die Schoa gelogen seien.

Uthgenannt gibt sich stur. Man habe ihm in seinem Leben schon so viel vorgeworfen, da käme es darauf nicht mehr an. »Da kann ich gut mit leben. Mir reicht es jetzt.« Mehr habe er nicht zu sagen. Nur noch »Schalom«.

Besuch

Tel Aviv und Berlin unterzeichnen bald Städtepartnerschaft

Am Montag wird der Bürgermeister der israelischen Metropole, Ron Huldai, im Roten Rathaus erwartet

 01.05.2025

Fernsehen

»Mord auf dem Inka-Pfad«: War der israelische Ehemann der Täter?

Es ist einer der ungewöhnlichsten Fälle der deutschen Kriminalgeschichte. Die ARD packt das Geschehen nun in einen sehenswerten True-Crime-Vierteiler

von Ute Wessels  01.05.2025

Nahost

Heftige Gefechte in Syrien: Erneut mehrere Tote. Jetzt schaltet sich Israel ein

Eine Tonaufnahme löst in Syrien erneut eine Welle der Gewalt aus. Mehrere Menschen werden getötet

von Amira Rajab, Nehal ElSherif  30.04.2025

Bergen-Belsen

Die Lebenden und die Toten

Das Lager war ein Ort des Sterbens, doch hier wurden auch Menschen geboren. Überlebende, Angehörige und sogenannte DP-Babys trafen sich nun zum gemeinsamen Gedenken. Unsere Autorin war dabei

von Amie Liebowitz  30.04.2025

Joshua Schultheis

Lieber Friedrich Merz!

Der künftige Kanzler steht vor einer historischen Aufgabe im Umgang mit den Juden und mit Israel. Unser Autor hat ihm einen Brief geschrieben

von Joshua Schultheis  30.04.2025

Prozess

Terror-Unterstützerin kommt mit Verwarnung davon

Aitak Barani hatte kurz nach dem 7. Oktober 2023 die Massaker der Hamas als »gelungene Widerstandsaktion« bezeichnet. Dafür bekam sie vom Amtsgericht Frankfurt eine Geldstrafe - die sie aber vorerst nicht zahlen muss

 30.04.2025

20 Jahre Holocaust-Mahnmal

Tausende Stelen zur Erinnerung - mitten in Berlin

Selfies auf Stelen, Toben in den Gängen, Risse im Beton - aber auch andächtige Stille beim Betreten des Denkmals. Regelmäßig sorgt das Holocaust-Mahnmal für Diskussionen. Das war schon so, bevor es überhaupt stand

von Niklas Hesselmann  30.04.2025

Bern

Schweizer Juden reagieren auf Verbot der Terrororganisation Hamas

Deutschland hat die Terrororganisation schon kurz nach dem Angriff vom 7. Oktober 2023 verboten. Die Schweiz zieht jetzt erst nach

 30.04.2025

Den Haag

USA rechtfertigen vor UN-Gericht Israels Blockade humanitärer Hilfe

Israel habe ein berechtigtes Sicherheitsinteresse, sagt der Rechtsvertreter aus Washington D.C.

 30.04.2025