Sprache

Das A-Wort

Judenhass auf einer Hauswand: Antisemitismus ist ein Problem der Mehrheitsgesellschaft. Foto: imago

Am 10. November sprach der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sein Urteil im Fall Dieudonné gegen Frankreich. Der französische Komiker hatte einen Schoa-Leugner feiern lassen und die Opfer verhöhnt. Das Gericht bestätigte die Geldstrafe: Meinungsfreiheit schützt nicht die Zerstörung der Menschenrechte anderer.

Drei Tage nach dem Urteil erschütterte der Terror Paris. Hauptanschlagsziel war die Konzerthalle Bataclan. Die war zuvor schon häufiger Ziel der antiisraelischen BDS-Bewegung gewesen – nicht zuletzt, weil sie viele Jahre jüdische Besitzer hatte, die dort auch Veranstaltungen des jüdischen Staates organisierten. Da schließt sich der Kreis zu Dieudonné. Der französische Repräsentant von BDS arbeitet fast nur mit einer Journalistin zusammen, die Dieudonné unterstützt und von einer »Unterwerfung des politischen Establishments unter die zionistische Lobby« spricht.

wort und tat Selbst wenn dies nichts mit dem Terror zu tun hätte – hier verschwimmen Grenzen zwischen Wort und Tat. Noch nie war der Antisemitismus so vielfältig wie derzeit. Der Befund für Deutschland mag noch nicht so verheerend sein, aber er mahnt zur Wachsamkeit. Es gibt nicht nur den als »Israelkritik« getarnten Antisemitismus. Wir haben es auch vermehrt mit Neurechten zu tun, die auf Klischees, die im kollektiven Unterbewusstsein verankert sind, setzen: Werden die so verstanden, wie sie es beabsichtigt haben, könnten sie sich herausreden, sie hätten das so nicht gesagt.

Das war schon so bei dem Politiker Jürgen Möllemann, der fünf Tage vor der Bundestagswahl 2002 acht Millionen gegen Israel gerichtete Flugblätter verteilen ließ. Das ist auch so bei dem neurechten Publizisten Jürgen Elsässer. »Hier die 99 Prozent ... – und dort das eine Prozent der internationalen Finanzoligarchie«, schreibt er, nennt die Namen Rockefeller, Rothschild, Soros, Chodorkowski und fragt scheinheilig: »Warum sollte das antisemitisch sein?«

Die Antwort fällt nicht schwer: Wenn die Individuen Juden sind oder – wie Rockefeller – dafür gehalten werden, dann geht es eben um die angedeutete Behauptung, hinter der »Finanzoligarchie« steckten »die Juden«. Die Zielgruppe hat die Andeutung auch bei Xavier Naidoo, dem Musiker und Redner vor den »Reichsbürgern«, verstanden, der von einem »Baron Totschild« singt.

formulierung Die Publizistin und Politikerin Jutta Ditfurth bezeichnete Jürgen Elsässer als »glühenden Antisemiten«. Der setzte sich gerichtlich gegen die Formulierung »glühend« durch. Lachhaft, fallen doch beide Begriffe in eins – die Griechen nannten das »Hendiadyoin« – ein Begriff in zwei Worten. Gibt es denn besonnene Antisemiten?

Nach der ersten Instanz legte Elsässer nach. Er schrieb: »Aktuell hat sich auch der Zentralrat der Juden in Deutschland scharf gegen Pegida positioniert. Würde sich dieses Sprachrohr der zionistischen Politik gegen Pegida stellen, wenn Pegida ein Instrument der Anti-Islam-Hetze wäre, die man ... aus Tel Aviv hört? Niemals.« Vielmehr, so Elsässer, gefalle es »dem Zentralrat, der US-Regierung und dem Netanjahu-Regime« nicht, dass sich in Dresden eine Bewegung formiere, »die Deutschland wieder als souveränen Staat konstituieren will«.

Das ist die Sprache von Dieudonnés Parti Anti Sioniste, die fordert, »unseren Staat, unsere Regierung und unsere Institutionen von der Aneignung und dem Druck der zionistischen Organisationen zu befreien«.

klischees Damit sind wir wieder bei der Sprache. Bereits Plato sagte, das Wort müsse so gebraucht werden, dass der Gegenstand richtig entstehe. Es gilt also, die oben genannten Phänomene adäquat zu beschreiben. Folglich ist Antisemitismus das, was historische Klischees anspricht. Alles, was Juden und ihre Religion nicht im Rahmen der für alle geltenden Rechte anerkennt; die Bezeichnung von Juden als Rasse; jede Äußerung, die Juden mit Israel gleichsetzt, insbesondere im Rahmen von Verschwörungstheorien; jede Äußerung, die Israel strenger beurteilt als andere Staaten. Dabei kommt es nicht darauf an, ob ausdrücklich oder indirekt: statt »jüdisches Kapital« kann da eben auch »Soros« oder »Rothschild« stehen, denn hier wird nur ein Begriff in Eigennamen aufgelöst.

Wer soll den Diskurs führen? Insbesondere natürlich Juden. Wir haben ein existenzielles Interesse, dass der Antisemitismusbegriff weder überdehnt noch verengt wird, sondern dass Äußerungen, die unsere Würde, Freiheit und unser Leben angreifen, mit der Macht des Wortes bekämpft werden können. Das entbindet die Gesellschaft zwar nicht von Verantwortung, aber wir lassen uns nicht vorschreiben, was als Antisemitismus gelten soll.

Das bedeutet nicht, dass Antisemitismus im Auge des jüdischen Betrachters liegt. Es heißt aber sehr wohl, dass der Diskurs über Antisemitismus immer wieder, engagiert, breit und unter Einbeziehung der Betroffenen, geführt werden muss. Nie seit der Schoa war das so wichtig.

Der Autor ist Rechtsanwalt und im Vorstand der Jüdischen Gemeinde Göttingen.

Berlin

Erneuter antisemitischer Angriff auf Neuköllner Kulturkneipe

14-Jähriger soll Pflasterstein geworfen haben. Der Polizeiliche Staatsschutz ermittelt

 15.06.2025

Carsten Ovens

Israel verteidigt sich – und schützt die Region

Warum der Angriff auf iranische Atomanlagen notwendig war – und was Europa daraus lernen muss

von Carsten Ovens  15.06.2025

Krieg

Iran feuert neue Raketenwelle auf Israel ab: Mehrere Tote

Die Mullahs holen erneut zu einem Angriff auf den jüdischen Staat aus

 15.06.2025 Aktualisiert

Meinung

Nie wieder Opfer!

Israels Angriff auf Irans Atomanlagen war unausweichlich. Denn eine Konsequenz aus der jüdischen Geschichte lautet: Wenn es hart auf hart kommt, besser zuerst schlagen als zuerst und dann für immer geschlagen zu werden

von Michael Wolffsohn  14.06.2025

Thüringen

Verfassungsschutzchef warnt vor islamistischen Anschlägen gegen jüdische und israelische Einrichtungen

Kramer: Wir müssen davon ausgehen, dass die Hemmschwelle weiter sinken wird, auch gewalttätig zu werden

 13.06.2025

Gerhard Conrad

»Regime Change im Iran wäre noch wichtiger als die Zerstörung der Atomanlagen«

Der Ex-BND-Geiselunterhändler und Nahostexperte zum israelischen Militärschlag gegen den Iran und die Konsequenzen für den Nahen Osten

von Michael Thaidigsmann  13.06.2025

Gespräch

Beauftragter Klein: Kirche muss Antijudaismus aufarbeiten

Der deutsche Antisemitismusbeauftragte Felix Klein kritisiert die Heiligsprechung des Italieners Carlo Acutis. Ihm geht es um antijüdische Aspekte. Klein äußert sich auch zum christlich-jüdischen Dialog - und zum Papst

von Leticia Witte  13.06.2025

Schlag gegen Iran

Ein notwendiger Schritt

Israel hat alles Recht der Welt, sich gegen das iranische Atomprogramm zu wehren. Teheran darf niemals in den Besitz von Atomwaffen gelangen. Ein Kommentar von Philipp Peyman Engel

von Philipp Peyman Engel  13.06.2025

Angriff auf Iran

Dobrindt hält Israels Angriff für richtig

Die Operationen seien Israels Sicherheit dienlich, sagt der deutsche Innenminister. Die Sicherheitsbehörden wappnen sich für mögliche Folgen in Deutschland

 13.06.2025