In der deutschen Kulturszene herrscht ein angespanntes Klima. Seit dem 7. Oktober 2023 ist sie geprägt von Boykottaufrufen gegen israelische Künstler, von Störaktionen bei Festivals, auf Bühnen und in Kinos – und von einer allgemeinen Verunsicherung, die bis tief in die kulturellen Institutionen hineinreicht. Paradigmatische Fälle sind der nicht zustande gekommene deutsch-israelische Gemeinschaftsstand auf der Frankfurter Buchmesse, die Kampagne gegen das Oberhausener Kurzfilmfestival und seinen Israel-solidarischen Leiter Lars Henrik Gass oder die »Strike Germany«-Kampagne, die zu einem Boykott deutscher Kulturinstitutionen aufrief, die in einem angeblich komplizenhaften Verhältnis zu Israel stünden.
Vorfälle wie diese nimmt nun eine am 9. Oktober erscheinende Studie des Instituts für Neue Soziale Plastik (INSP) in den Blick, die der »Jüdischen Allgemeinen« bereits vorliegt. »Resonanzen« heißt die Untersuchung von Gila Baumöhl und Hannah Dannel. Die beiden Autorinnen zeichnen darin vor allem ein Bild funktionierender deutsch-israelischer Kulturbeziehungen – institutionell tief verankert und damit gegenläufig zum Klima von Boykott und Verunsicherung. Sie verweisen auf stabile Pfeiler wie die kontinuierliche Präsenz israelischer Literatur in deutschsprachigen Verlagen, auf Konzertreihen mit israelischen Orchestern, auf Theater- und Tanzkooperationen etwa an den Münchner Kammerspielen und der Berliner Schaubühne, die sich Boykottaufrufen widersetzte, oder auf die Einbindung israelischer Filme bei Festivals wie der Berlinale.
All das sind Beispiele, die zeigen, dass das Fundament trägt – und doch offenbart der genauere Blick ein Verhältnis, das auch zutiefst angespannt ist. Denn unter dem Strich hat der Austausch seit dem 7. Oktober 2023 abgenommen. Wie ist diese Entwicklung zu erklären?
Mischung aus Ängstlichkeit und stiller Distanzierung
Die INSP-Studie sieht die Ursache dafür vor allem in einer Mischung aus Ängstlichkeit und stiller Distanzierung. Die Autorinnen dokumentieren Fälle, in denen Bewerbungen israelischer Künstler nicht mehr berücksichtigt wurden, weil eine Besetzung »in diesen Zeiten« als unpassend galt. Institutionen scheuen Kooperationen, um nicht selbst ins Kreuzfeuer öffentlicher Kritik zu geraten. Offene Boykottaufrufe verhallen zwar meist, aber eine Dynamik des Schweigens setzt ein: Projekte werden verschoben, Einladungen bleiben aus, Kontakte laufen ins Leere. Dieser stille Boykott – getragen weniger von politischer Überzeugung als von der Angst vor Shitstorms und Reputationsschäden – hat den Austausch in den vergangenen zwei Jahren messbar reduziert.
Das gilt quer durch die Kultursparten. Beispielhaft zeigt er sich im Bereich Kino, wo die Anzahl der Zusammenarbeiten in den vergangenen Jahren deutlich abgenommen hat. Wurden zwischen 2020 und 2022 vier bis fünf deutsch-israelische Koproduktionen realisiert, waren es in den darauffolgenden Jahren nur noch ein bis zwei Projekte pro Jahr. Katriel Schory, langjähriger Leiter des Israeli Film Fund, den die »Resonanzen«-Studie zitiert, spricht gar von einem »faktischen Stillstand« gemeinsamer Projekte, nachdem sich deutsche Partner wie die Förderungsanstalt FFA oder der Sender Arte nach dem 7. Oktober zurückhaltend zeigten.
Was über Jahrzehnte an Kulturbeziehungen aufgebaut wurde, ist zwar nicht verschwunden, aber fragil geworden.
Auch in der Literatur, im Theater oder in den darstellenden Künsten zeichnet sich der Rückgang ab: weniger Übersetzungen, abgesagte Gastspiele, unterbrochene Kooperationen. Was über Jahrzehnte an Kulturbeziehungen aufgebaut wurde, ist zwar nicht verschwunden, aber fragil geworden – sicher geglaubte Brücken drohen abzubrechen.
Zugleich stößt der Austausch derzeit auch an ganz praktische Grenzen: Nach dem 7. Oktober, dem anhaltenden Gaza-Krieg und unter dem Eindruck des Konflikts zwischen Israel und dem Iran im Juni 2025 sind geplante Kooperationen weiter auf unbestimmte Zeit vertagt. Veranstaltungen in Israel oder mit israelischer Beteiligung sind häufig einfach nicht planbar.
Handlungsbedarf wird quer durch die Parteien anerkannt
Auch die deutsche Politik beschäftigt diese Zustände. Eine Umfrage unter Mitgliedern des Kulturausschusses des Bundestags und des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) zeigt: Handlungsbedarf wird quer durch die Parteien anerkannt, die Lösungsansätze unterscheiden sich jedoch.
Eine BKM-Sprecherin sagte der Jüdischen Allgemeinen, dass dem Kulturbeauftragten Wolfram Weimer (parteilos) die Bekämpfung von Antisemitismus »ein zentrales Anliegen« sei. »Antisemitismus mit und ohne Bezug zu Israel, das Leugnen des Existenzrechts Israels, die Verherrlichung des Terrorangriffs der Hamas vom 7. Oktober 2023 sowie Boykottaufrufe gegen israelische oder jüdische Kunst- und Kulturschaffende werden seitens BKM deutlich zurückgewiesen.« Nach dem 7. Oktober habe man zudem eine bundesweite Veranstaltungsreihe initiiert, die antisemitismuskritische Sensibilisierung, Awareness-Strategien und Codes of Conduct in den geförderten Einrichtungen zum Thema machte.
Der CDU-Abgeordnete Michael Hose sagt gegenüber der Jüdischen Allgemeinen: »Mit großer Sorge sehe ich, dass nach dem Terrorangriff der Hamas antisemitische Vorfälle in der Kulturszene zunehmen.« Kritik an der israelischen Regierung dürfe nie als Vorwand für Antisemitismus dienen, so Hose. »Umso wichtiger ist es, den kulturellen Austausch mit Israel gerade jetzt konsequent fortzuführen.«
Ottilie Klein, ebenfalls CDU, spricht von einem Rückgang der Zusammenarbeit seit dem 7. Oktober, will diesen aber nicht hinnehmen: »Wir wollen weiter einen guten und starken kulturellen Austausch mit Israel.« Einen stillen Boykott gegen Israelis wolle sie nicht akzeptieren. »Über Anträge und über den Haushalt können wir Impulse setzen, die den kulturellen Austausch vereinfachen und stärken.«
Streit Gregor Gysi (Die Linke) verweist auf die politischen Rahmenbedingungen in Israel: »Leider wird nicht erkannt, dass gerade in schwierigen politischen Situationen Kulturbeziehungen besonders wichtig werden.« Boykottaufrufe hält er für falsch: »Man braucht den Kulturaustausch, den kulturellen Streit, gerade auch dann, wenn man Änderungen in der israelischen Regierungspolitik erreichen will.«
Die Grünen-Abgeordnete Marlene Schönberger hebt die Bedeutung des Jugend- und Schulaustauschs hervor: »Es ist wohl kein Geheimnis, dass der Austausch in vielerlei Hinsicht unter Krieg und Krise leidet. Dabei wäre es jetzt umso wichtiger, Dialog und Begegnung auszubauen.« Sie fordert, das lange geplante Deutsch-Israelische Jugendwerk endlich umzusetzen und die Lehrkräftebildung stärker auf Antisemitismus und israelische Geschichte auszurichten.
Die Autorinnen der INSP-Studie fordern die Politik auf, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass Kulturinstitutionen angesichts von Boykottaufrufen und antisemitischem Druck handlungsfähig bleiben. Baumöhl und Dannel plädieren dafür, jüdische und israelische Perspektiven verbindlich in Förderjurys einzubinden und Kulturverwaltungen so aufzustellen, dass sie Institutionen aktiv unterstützen können. Zentral sei zudem der Ausbau von Stipendien, Residenzen und Koproduktionen – Formate, die Begegnungen schaffen und tragfähige Allianzen ermöglichen. Dies gelte auch und besonders in Krisenzeiten.