Grundgesetz

75 Jahre Freiheit

Foto: picture alliance/dpa

Wir feiern in diesen Tagen den 75. Geburtstag unserer Verfassung und empfinden doch mehr als bei früheren Jubiläen den dringenden Auftrag, das gefeierte Grundgesetz auch zu pflegen, zu erhalten und zu verteidigen. Denn Herausforderungen gibt es viele: Der Krieg ist nach Europa zurückgekehrt. Radikale Kräfte wollen im Namen einer identitär und völkisch gedachten Ordnung die Demokratie des Grundgesetzes aushöhlen.

»Politisch« begründete Gewalt, die sich zur Rechtfertigung auf hehre Ziele beruft, nimmt zu. Auf unseren Straßen skandieren Islamisten die Forderung nach einem Kalifat. Schrecklichste Verbrechen an Jüdinnen und Juden werden öffentlich bejubelt. Diese selbst fühlen sich wieder unsicher – beschämenderweise auch in unserem Land und sogar an unseren Universitäten, dort, wo doch junge Menschen eigentlich lernen sollen, wie sich Konflikte mit rationalen Argumenten statt mit geballten Fäusten austragen lassen.

Kein naiver Zweckoptimismus

Zugleich spüren und sehen wir: Die Bereitschaft, unsere Ordnung zu verteidigen, wächst mit den Gefahren. Das ist kein naiver Zweckoptimismus, sondern etwas, das sich mehr und mehr beobachten lässt.

Erstens: Vor vier Jahrzehnten musste Dolf Sternberger, der große Politikwissenschaftler und Vater des Begriffs »Verfassungspatriotismus«, es noch als einen Wunsch formulieren: »Ich wünschte, die Gelegenheit und der Wille fänden sich, dass auch die Verfassungsfreunde einmal auf die Straße gingen« und die »gemeinsame Verfassungsloyalität der Bürger (…) öffentlich sichtbar machen«. Heute geschieht genau dies. Bürgerinnen und Bürger, die in vielem nicht einer Meinung sind, geben sich einen Ruck und tun öffentlich kund, dass sie unsere Ordnung gegen Gewalt und Angriffe von innen stützen und schützen wollen.

Zweitens: Die seriösen Demokraten im Deutschen Bundestag arbeiten daran, wichtige Strukturprinzipien für die erfolgreiche Arbeit des Bundesverfassungsgerichts im Grundgesetz abzusichern. Die Gespräche verlaufen ernsthaft und sachkundig, sodass eine sehr gute Chance besteht, dieser wichtigen Säule unserer Verfassungsordnung ein noch festeres Fundament zu verschaffen.

Friedlich und ohne Waffen

Drittens: In Staat und Politik gibt es eine breite Mehrheit, die mit dem Bundesverfassungsgericht gemeinsam der Ansicht ist, dass friedlich und ohne Waffen fast jede Meinung auch öffentlich kundgetan werden kann – selbst wenn sie abwegig oder absurd ist. Das muss eine liberale Demokratie aushalten. Wer aber die Grenzen des Strafrechts überschreitet, muss mit empfindlichen Konsequenzen rechnen.

Das gilt natürlich für physische Gewalt, aber auch für Volksverhetzung, Terrorpropaganda oder die Billigung von Straftaten, die selbst eine Straftat ist. Diesen Grundsatz setzen unsere Sicherheitsbehörden, Staatsanwälte und Gerichte auch um. In einzelnen Fällen mögen Fehler passieren. Denn überall, wo Menschen handeln, gibt es Fehler. Aber diese Fehler sind die Ausnahme, nicht die Regel, und sie werden häufig rasch korrigiert.

Wir haben viel zu tun, die offene Gesellschaft weiter zu stärken.

Dass ein Bundesjustizminister in der Jüdischen Allgemeinen das Grundgesetz würdigen darf, ist ein eindrückliches Zeichen dafür, dass die Nachkommen der Täter aus der Geschichte doch gelernt haben – auch wenn ich das vor einem Jahr vielleicht mit noch größerer Sicherheit formuliert hätte als heute.

Jedenfalls ist es in einer langen Reihe ein weiteres Zeichen für die moralische Größe der Jüdinnen und Juden in diesem Land. Sie haben die Hand ausgestreckt und sind bereit, in diesem Land nach vorn zu schauen, ohne die Gräuel der Vergangenheit je vergessen zu können; sie haben ihm eine neue Chance gegeben und ihm neues jüdisches Leben geschenkt.

Ein Land, in dem jeder Mensch durch Talent und Fleiß sein Glück machen kann

Gemeinsam sind wir ohne jeden Unterschied deutsche Bürgerinnen und Bürger, die an einem Land, an ihrem Land arbeiten, in dem jeder Mensch durch Talent und Fleiß sein Glück machen kann. Wir sind dankbar für jene Gabe und versuchen, ihrer würdig zu sein und immer noch würdiger zu werden – nämlich dort, wo neuer oder nie ganz verschwundener Antisemitismus unser Miteinander wieder und wieder vergiftet.

Es war das Grundgesetz, das – zunächst für die Westdeutschen – jene Lehren aus der Geschichte zog. Der Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland bildet die vollständige Antithese zum nationalsozialistischen Unrechtsregime: Dem Willkürstaat setzt das Grundgesetz den Rechtsstaat entgegen, dem gleichgeschalteten Zentralstaat den föderalen Bundesstaat, dem von oben nach unten diktierenden Führerstaat das von unten nach oben wirkende Demokratieprinzip und dem Rassenwahn die Menschenwürde.

Die Grundrechte des Grundgesetzes etablieren ein Volk freier Bürgerinnen und Bürger, deren Vielfalt und Unterschiedlichkeit anerkannt und geschützt ist – in all jenen Hinsichten, die die ersten 19 Artikel unserer Verfassung so schnörkellos benennen, von der Glaubens- bis zur Berufsfreiheit, von der Meinungs- bis zur Versammlungsfreiheit.
Es ist deshalb ein Fest der Freiheit, das wir feiern. Ein Jubiläum der individuellen Freiheitsrechte und ihres weltweit ziemlich einzigartigen Schutzes, den sie in diesem Land, unter dieser Verfassung genießen.

»Grundlage für jüdischess Leben in Deutschland überhaupt«

Josef Schuster hat am Grundgesetz jüngst in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« genau dies hervorgehoben: »Für mich ist die Verfassung mit der in ihr verankerten Religionsfreiheit und ihrer klaren Ausrichtung auf eine offene und freie Gesellschaft die Grundlage für jüdisches Leben in Deutschland überhaupt.«

Wir haben nach den Feiern dieser Tage gemeinsam viel zu tun, die offene Gesellschaft weiter zu verteidigen und zu stärken. Die Ordnung des Grundgesetzes ermöglicht gerade solche Selbstverbesserung und Selbstkorrektur in Permanenz. Alles ist veränderbar. Nur Freiheit und Demokratie, Menschenwürde und die Bindung des Staates an das Recht sind es nicht. Auch das steht in dieser besten Verfassung, die wir Deutschen je hatten.

Der Autor ist Justizminister (FDP) der Bundesrepublik Deutschland.

Existenzrecht Israels

Objektive Strafbarkeitslücke

Nicht die Gerichte dafür schelten, dass der Gesetzgeber seine Hausaufgaben nicht macht. Ein Kommentar

von Volker Beck  23.11.2025

Dortmund

Ermittlungen gegen Wachmann von NS-Gefangenenlager 

Die Polizei ermittelt gegen einen Ex-Wachmann des früheren NS-Kriegsgefangenenlagers in Hemer. Er soll an Tötungen beteiligt gewesen sein - und ist laut »Bild« inzwischen 100 Jahre alt

 22.11.2025

Deutschland

»Völlige Schamlosigkeit«: Zentralrat der Juden kritisiert AfD-Spitzenkandidat für NS-Verharmlosung

Der AfD-Spitzenkandidat aus Sachsen-Anhalt, Ulrich Siegmund, äußert sich einschlägig in einem Podcast zur NS-Zeit

von Verena Schmitt-Roschmann  21.11.2025

München

»Wir verlieren die Hoheit über unsere Narrative«

Der Publizist und Psychologe Ahmad Mansour warnte in München vor Gefahren für die Demokratie - vor allem durch die sozialen Netzwerke

von Sabina Wolf  21.11.2025

Kommentar

Wenn Versöhnung zur Heuchelei wird

Jenaer Professoren wollen die Zusammenarbeit ihrer Universität mit israelischen Partnern prüfen lassen. Unter ihnen ist ausgerechnet ein evangelischer Theologe, der zum Thema Versöhnung lehrt

von Tobias Kühn  21.11.2025

Kommentar

Martin Hikel, Neukölln und die Kapitulation der Berliner SPD vor dem antisemitischen Zeitgeist

Der bisherige Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln ist abgestraft worden - weil er die Grundwerte der sozialdemokratischen Partei vertreten hat

von Renée Röske  21.11.2025

Gespräch

»Der Überlebenskampf dauert an«

Arye Sharuz Shalicar über sein neues Buch, Israels Krieg gegen den palästinensischen Terror und die verzerrte Nahost-Berichterstattung in den deutschen Medien

von Detlef David Kauschke  21.11.2025

Nazivergangenheit

Keine Ehrenmedaille für Rühmann und Riefenstahl

»NS-belastet« oder »NS-konform« – das trifft laut einer Studie auf 14 Persönlichkeiten der Filmbranche zu. Ihnen wird rückwirkend eine Auszeichnung aberkannt, die die Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO) zukünftig nicht mehr vergeben will

von Niklas Hesselmann  21.11.2025

Deutschland

»Hitler ist niedergekämpft worden. Unsere Städte mussten in Schutt und Asche gelegt werden, leider«

Militanter Linker, Turnschuhminister, Vizekanzler und Außenminister: Das sind die Stationen im Leben des Grünenpolitikers Joschka Fischer. Warum er heute vom CDU-Kanzler Konrad Adenauer ein anderes Bild als früher hat

von Barbara Just  21.11.2025