Irene Miziritska

Natürlich Neuland

Irene Miziritska Foto: Privat

Irene Miziritska

Natürlich Neuland

Eine Erstwählerin blickt auf 16 Jahre Kanzlerschaft von Angela Merkel zurück

von Irene Miziritska  04.11.2021 13:33 Uhr

»Das Internet ist für uns alle Neuland.« Das ist ein Satz, für den Angela Merkel belächelt, ja geradezu ausgelacht wurde. Ein Satz, der schon jetzt in die Geschichte ihrer Kanzlerschaft eingegangen ist und geradezu bildhaft für diese steht.

Und, das gehört auch zur Wahrheit, es war ein Satz, mit dessen Botschaft sie rechtbehalten sollte und mit dem sie sich im Jahr 2013 vorausschauender war als so manch einer, der damals zu den Lachenden gehörte und sich das jetzt nicht eingestehen will.

REGELN Das Internet ist ein gefährliches Neuland, wie sich gezeigt hat, vor allem dann, wenn von der Politik nicht die richtigen Rahmenbedingungen gesetzt werden. In den letzten Jahren äußerte sich das verstärkt: Etwa durch Hatespeech in den sozialen Medien, Wählerbeeinflussung, Radikalisierung im Netz oder aber auch, wenn die Neue Rechte von einem »Informationskrieg« spricht.

Es gibt viele offene Fragen: Ist das Internet ein rechtsfreier Raum? Eine Nachverfolgung fällt nicht nur durch die weit verbreitete Anonymität im Netz schwer. Auch ist die Justiz mit der schieren Menge der Inhalte überfordert.

Mit dem Tempo des Internets kann die Realität nur schwer mithalten. Wer bestimmt die Regeln? Sind es etwa Twitter, Facebook & Co. selbst? Wird diesen Milliardenkonzernen nicht viel zu viel Macht eingeräumt? Welche Algorithmen leiten uns? Müssen Freiheit und Sicherheit im digitalen Zeitalter neu verhandelt werden? Es sind Fragen, die essenziell sind, denn es geht um den Erhalt der Demokratie. Das Internet birgt in vielerlei Hinsicht die Gefahr, diese auszuhöhlen und den Diskurs zu vergiften.

DISRUPTION Erst letztes Jahr im August wurde gut sichtbar, wie eine Stimmung aus dem Netz in die Realität überschwappen kann. Es entstand eine Dynamik, die letztlich darin mündete, dass Reichskriegsflaggen auf den Stufen des Reichstagsgebäudes geschwenkt wurden. Nur drei Polizeibeamte waren es, die diese Menschen mit bloßen Händen davon abhielten, in das Gebäude einzudringen. Da erhält der Begriff »,wehrhafte« Demokratie« fast eine wortwörtliche Bedeutung.

Und auch wenn mein Rechtsprofessor den Begriff »Disruption« nicht leiden kann – genauso muss man das, was hier geschieht, benennen. Das Internet stellt eine Disruption für Justiz und Gesellschaft dar. Das Internet hat nicht höflich an der Tür der Realität angeklopft. Nein, ehe wir uns versahen, hatte es diese bereits mit gewaltiger Wucht eingetreten. Mit all den bekannten Folgen. 2013 hatten viele die Tragweite des Internets noch gar nicht begriffen – die Bundeskanzlerin schon.

Nach 16 Jahren Kanzlerschaft wird sie wohl wieder »Neuland« betreten – diesmal den Ruhestand. Deutschland ohne »Mutti«: Für viele, gerade auch Erst- und Jungwähler wie mich bei dieser Bundestagswahl, ist das schwer vorstellbar. Schließlich sind wir mit ihr groß geworden, Merkel war – neben Jogi Löw – eine Konstante.

RATIONALITÄT »Wenn Merkels Hose Feuer fangen würde, würde sie die Flammen entschieden zurückweisen«, brachte der Publizist Roger Willemsen Merkels Politikstil auf den Punkt. Emotionen oder mitreißende Reden sucht man bei Merkel vergeblich. Und doch muss ich zugeben: Diese Unaufgeregtheit, Merkels »Unpopulismus«, ist herrlich erfrischend, vor allem, wenn man sich mal die Regierungschefs anderer großer Nationen anschaut.

Rationalität und Pragmatismus, davon lässt sich die gelernte Physikerin leiten. Das hat sie auch in all den Krisen offenbart, die sie zu bewältigen hatte und die ihr den Titel »Krisenkanzlerin« einbrachten.

Ihre Wortwahl ist stets bedacht, trocken und nüchtern. Auf internationalem Parkett hat sie ihr diplomatisches Geschick eingesetzt und die westlichen Werte verteidigt. Wie verfahren die Situation auch war, sie ließ die Gespräche nie abreißen, die Hand war immer ausgestreckt.

STIL Und wenn wir ehrlich sind: Natürlich war es gut, mit einer Frau im Amt der Bundeskanzlerin aufzuwachsen. Eine Bundeskanzlerin, das war für mich normal. Vielleicht auch, weil sie nie ein großes Aufheben darum gemacht, sondern das Prinzip von Gleichberechtigung einfach gelebt hat. Diese Selbstverständlichkeit, auch ausgedrückt in dem inzwischen alten Witz »Mama, kann eigentlich auch ein Mann Bundeskanzlerin werden?«: Auch das ist ein Verdienst Merkels (vielleicht auch unbewusst) für den Feminismus.

Mit ihrem Politikstil erfreut sich die Kanzlerin großer Beliebtheit im Land. Denn, so lautet oft die Begründung von Beobachtern, ›sie hat die Deutschen nie »mit Politik belästigt«. Und gleichzeitig ist es das, was ihr die Opposition vorwirft. Stillstand und Lethargie – Merkels Stil sei symptomatisch für ihre Politik, lautet der Vorwurf. Und auch aus der CDU muss sie sich die Kritik anhören, die eigene Partei inhaltlich entkernt zu haben.

REKORD Eine politische Bewertung soll an dieser Stelle nicht vorgenommen werden. Merkels Stil hingegen hat ihr weltweit großen Respekt und Anerkennung eingebracht. Als vor ein paar Tagen der neu gewählte Bundestag zu seiner konstituierenden Sitzung in Berlin zusammentrat, endete offiziell Merkels Regierungszeit. Da aber noch keine neue Regierung gebildet ist, hat der Bundespräsident sie gebeten, das Amt geschäftsführend weiterzuführen. Diese Übergangszeit ist im Grundgesetz genau geregelt.

Ob Merkel dann noch den Amtszeit-Rekord von Helmut Kohl bricht? Das hängt davon ab, wie lange die Koalitionsverhandlungen der Ampelkoalition dauern werden. Damit das klappt, müssten diese mindestens noch bis zum 17. Dezember gehen. Bekommen wir sogar eine weitere Neujahrsansprache der Bundeskanzlerin? Das scheint möglich, wenn auch im Moment unrealistisch.

Das Ende einer Ära, es rückt näher. Nach 16 Jahren Angela Merkel heißt es jetzt, um es mit den Worten Andrea Boccellis und Sarah Britghtmans aus ihrem Duett auszudrücken, »Time to Say Goodbye«. Zumindest zum Abschied darf es etwas emotional sein, oder?

Die Autorin ist ELES-Stipendiatin und lebt in München.

Kommentar

Der Öl-Preis muss fallen, damit die Mullahs stürzen

Wenn der Preis für Rohöl auf unter 10 US-Dollar fällt, gehen die Saudis nicht pleite, aber der Revolutionsführer Khamenei sehr wohl. Putin übrigens auch.

von Saba Farzan  17.06.2025

Kommentar

Der »Spiegel«, Israel und das Völkerrecht

Deutschland dürfe »nicht erneut« zu Israels Angriffen schweigen, fordert Thore Schröder in einem Artikel. Wenn es um den jüdischen Staat geht, hat Realitätsverweigerung bei dem Hamburger Magazin System

von Ralf Balke  17.06.2025

Meinung

Die »Staatsräson« mit neuem Leben füllen

Umfragen zeigen, dass Israel hierzulande alles andere als beliebt ist. Dabei sollte allen Deutschen das Schicksal des jüdischen Staates am Herzen liegen - gerade angesichts der Bedrohung aus dem Iran

von Nikolas Lelle  16.06.2025

Iman Sefati

Warum viele Exil-Iraner Israel dankbar sind

»Viele Exil-Iraner sehen in diesen Angriffen nicht Krieg, sondern Hoffnung«, schreibt der Autor

von Iman Sefati  15.06.2025

Meinung

Israel verteidigt sich – und schützt die Region

Warum der Angriff auf iranische Atomanlagen notwendig war – und was Europa daraus lernen muss

von Carsten Ovens  15.06.2025

Manifest zur Außenpolitik

Gilt das Versprechen der SPD auch für ukrainische Kinder?

Unser Gastautor wurde in der Ukraine geboren und ist Jude. Seit vielen Jahren ist er SPD-Mitglied. Das neue Manifest einiger Altvorderer zur Außenpolitik macht ihn wütend

von Igor Matviyets  13.06.2025

Meinung

Zwischen Sorge und Hoffnung

Warum viele Iraner Israel dankbar sind

von Saba Farzan  13.06.2025

Schlag gegen Iran

Ein notwendiger Schritt

Israel hat alles Recht der Welt, sich gegen das iranische Atomprogramm zu wehren. Teheran darf niemals in den Besitz von Atomwaffen gelangen. Ein Kommentar von Philipp Peyman Engel

von Philipp Peyman Engel  18.06.2025 Aktualisiert

Meinung

Präventivschlag gegen eine existenzielle Bedrohung

Irans Atomprogramm verfolgt keine friedlichen Ziele. Nach dem Scheitern der diplomatischen Bemühungen ist Israels Angriff gerechtfertigt

von Ulrike Becker  13.06.2025