Meinung

Kontrollverlust im Westjordanland

Am Mittwoch geschah genau das, was man seit Monaten immer wieder im Westjordanland beobachten konnte. Radikale Siedler dringen in eine palästinensische Ortschaft ein, in diesem Fall Kafr Malik nahe Ramallah, zünden Autos sowie Häuser an und terrorisieren die Bewohner, die sich dann wehren. Armee und Polizeikräfte erscheinen, versuchen beide Seiten zu trennen. Am Ende sind drei Palästinenser tot, sieben weitere verletzt. Fünf Siedler werden festgenommen und der Polizei übergeben.

Doch was danach geschah, besaß eine neue Dimension – zumindest auf den ersten Blick. Als Freitag auf Samstag erneut marodierende Siedler bei Kafr Malik auftauchten, griffen sie nicht nur die Palästinenser an, sondern ebenfalls Angehörige der israelischen Armee. Dabei soll auch versucht worden sein, Soldaten zu überfahren.

Armeefahrzeuge wurden mit Steinen beworfen, ein Reservist gewürgt. Anschließend wurde die Polizeistation in der Siedlung Beit El demoliert und mit dem Wort »Rache« besprüht.

»Sie haben uns gedroht, dass wir das Gebiet nicht wieder lebend verlassen werden«, so der Kommandeur der Einheit, die vor Ort war. Vertreter der Siedler dagegen behaupten, die Soldaten hätten auf sie geschossen, wobei ein Vierzehnjähriger verletzt worden sei. Dabei handelte es sich aber um einen Vorfall, der zeitgleich, jedoch woanders stattgefunden hatte.

Zwar verurteilte die Politik das Verhalten der Siedler, allen voran Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Israel Katz. Anders dagegen Finanzminister Bezalel Smotrich, Vorsitzender der Partei der Religiösen Zionisten, dem politischen Arm der Siedler. Er skandalisierte das Verhalten der Armee, die auf Juden hätte schießen lassen, sprach von einer roten Linie, die überschritten worden wäre.

Doch die Verurteilung der Siedlergewalt durch Vertreter der Regierung klingt heuchlerisch und verlogen. Denn kaum im Amt, sorgte Israel Katz im November 2024 dafür, dass alle Gewalttaten israelischer Siedler fortan nicht mehr als Terrorismus gelten. Und wer sich wegen entsprechender Straftaten noch in Administrativhaft befand, kam im Januar 2025 frei. Alle Warnungen des Inlandgeheimdienstes Shin Bet, dass es sich dabei um einige sehr problematische Herrschaften handelt, wurden in den Wind geschlagen.

Ende Januar 2025 – was für eine Überraschung – vermeldete die Armee dann zwei Vorfälle, und zwar in den Dörfern Jinsafut und Al-Funduq, bei denen radikale Siedler nicht nur die Palästinenser drangsalierten, sondern ebenfalls einen Posten der israelischen Grenzpolizei attackierten.

»Sie haben mich mit Pfefferspray besprüht«, so ein Polizeioffizier damals gegenüber den Medien. »Ich hatte Angst, dass sie uns lynchen würden und habe ein paar Schüsse in die Luft abgegeben.«

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Offensichtlich fühlten die radikalen Siedler sich unangreifbar genug, um diesen Schritt zu wagen. Denn da gab es ja einen hochrangigen Polizeioffizier namens Avishai Muallem, Leiter der Ermittlungsbehörden im Westjordanland. Um seinem Chef Itamar Ben Gvir, Minister für öffentliche Sicherheit, zu gefallen und schneller befördert zu werden, vertuschte er alle möglichen Verbrechen seitens radikaler Siedler oder ließ Untersuchungen ins Leere laufen. Für sechs Monate wurde Muallem dafür – sehr zum Ärger seines Chefs, der ihn stets in Schutz nahm –  vom Dienst suspendiert. Nun arbeitet er wieder für die Polizei.

Aufgrund einer solchen Politik trägt die Regierung ein hohes Maß an Verantwortung dafür, dass im Westjordanland Anarchie und Gewalt herrschen. Sie hat sämtliche Kontrolle über die radikalen Siedler, zumeist Vertreter der völlig enthemmten »Hügeljugend«, verloren. Bis dato waren es die Palästinenser, die darunter zu leiden hatten. Jetzt aber geraten auch zunehmend die eigenen Soldaten ins Visier.

Der Autor ist Historiker und freier Journalist und lebt in Berlin.

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