Kommentar

Gaza gleich Auschwitz?

Die Mischung macht’s. Das jedenfalls dachte man sich am Montag wohl bei »Spiegel Online«. Oder vielleicht dachte niemand dort nach, als man zum 80. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung mit einem Interview mit dem israelischen Historiker Omer Bartov aufwartete.

»Der Holocaust dient Israel als Lehre der Unmenschlichkeit«, lautete die Überschrift. Dazu war ein großformatiges Foto zu sehen, das eine Trümmerlandschaft im Gazastreifen zeigte, unter dem stand: »Der israelische Historiker Omer Bartov übt scharfe Kritik an seinem Land. In Deutschland wirft man ihm Antisemitismus vor. Hier spricht er über den möglichen Genozid in Gaza und die Instrumentalisierung des Holocaust.«

Spiegel Online war es also wichtig, das Gedenken an die Befreiung von Auschwitz als Anlass zu nehmen, um Israel zu attestieren, quasi in die Fußstapfen der Nazis getreten zu sein, weil es im Gazastreifen einen genozidalen Krieg führen würde. Die Kombination der Dachzeile »80. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung« mit dem bewusst historisierenden Foto aus Gaza, das auch das kriegszerstörte Warschau hätte sein können, legt genau diese Deutung nahe. Und natürlich greift die Redaktion auf einen jüdischen Kronzeugen zurück, der erwartungsgemäß das erzählt, was sie hören möchte.

Lesen Sie auch

So wird Omer Bartov von Spiegel-Autor Thore Schröder unter anderem folgendes gefragt: »Dient der Holocaust den Israelis nicht als Lehre der Menschlichkeit?« Die Frage zeugt bereits von einem irritierenden Verständnis der Vernichtungslager als einer Art Besserungsanstalt. Wer diese überlebt, muss doch jeglicher Gewalt abschwören, so ihr Subtext. So verleiht man der Schoa nachträglich noch einen Sinn.

Die Antwort des Historikers dazu lautet: »Im Gegenteil, er dient als Lehre der Unmenschlichkeit. Um es ganz deutlich zu sagen, der Holocaust dient den jüdischen Israelis dazu, sich selbst als außerhalb jeglicher moralischen und ethischen Grenzen, die für andere Menschen gelten, zu begreifen.« Damit übererfüllt er die Erwartungshaltung des Spiegel-Autors sogar.

Zweifelsohne ist Omer Bartov ein hervorragender Historiker. Er gilt als versierter Experte, wenn es um die Verbrechen der Wehrmacht und die Schoa geht. Bartov selbst betonte nach dem 7. Oktober das Selbstverteidigungsrecht Israels, nahm aber zu der Kriegsführung bald schon eine kritische Haltung an. Dem kann man zustimmen oder auch nicht – weshalb das Interview selbst weniger ein Problem darstellt, auch wenn es äußerst fragwürdige Aussagen enthält. Wohl aber der Zeitpunkt der Veröffentlichung und die Kontextualisierung mit Auschwitz. Damit bekommt das Gespräch eine völlig andere Schlagseite.

Lesen Sie auch

Immerhin: Bei Spiegel Online merkte die Redaktion irgendwann - wie man hört, auch durch zahlreiche Leserrückmeldungen -, dass die Kombination von Interview, Bild und Überschrift wohl doch alles andere als glücklich war. Daraufhin wurde der Hinweis auf den 80. Jahrestag der Auschwitz-Befreiung aus der Dachzeile getilgt, die Überschrift in »Die Unfähigkeit, die Realität als das zu sehen, was sie ist, kann Israel selbst sehr schaden« geändert und der Beitrag von seinem prominenten Platz auf der Seite verschwand.

Das Ganze ist kein Einzelfall. Beim Thema Israel kennt man in der Redaktion manchmal kein Halten mehr, weshalb wahlweise die deutsche Politik nach der Pfeife der Israel-Lobby tanzen würde oder »Raketen gegen Steinewerfer« zum Einsatz kommen. Gerne bezeichnet sich das Nachrichtenmagazin als »Sturmgeschütz der Demokratie«. Doch Beiträge wie der von gestern machen den »Spiegel« eher zur Konfettikanone der Israelhasser.

Der Autor ist Journalist und Historiker in Berlin.

Meinung

Boykottiert die Boykotteure!

Dass die Münchner Philharmoniker in Gent nicht auftreten dürfen, weil sie mit Lahav Shani einen israelischen Dirigenten haben, ist eine Schande - und erfordert eine deutliche Antwort deutscher Kulturschaffender

von Michael Thaidigsmann  10.09.2025

Meinung

Wenn Wutausbrüche Diplomatie ersetzen

So verständlich der Frust ist, tut sich Israels Regierung mit ihrer aggressiven Kritik an westlichen Regierungen und ihren Einreiseverboten für europäische Politiker keinen Gefallen

von Michael Thaidigsmann  08.09.2025

Meinung

Bitte mehr Sorgfalt, liebe Kollegen!

Weltweit haben Medien die Geschichte verbreitet: In Gaza sei ein hilfesuchendes Kind von Israelis erschossen worden. Es stimmt nur nicht, wie sich nun herausstellt. Von professionellen Journalisten darf man eigentlich mehr erwarten

von Susanne Stephan  08.09.2025

Essay

Das Gerücht über Israel

Die Geschichte des Antisemitismus ist eine Geschichte der Lüge. Was früher dem Juden als Individuum unterstellt wurde, wird nun Israel als Nation vorgeworfen

von Daniel Neumann  06.09.2025 Aktualisiert

Meinung

Einseitig, fehlerhaft, selbstgerecht

Die »International Association of Genocide Scholars« bezichtigt Israel des Völkermords. Die Hamas spricht sie von jeder Verantwortung für die Lage in Gaza frei. Eine Erwiderung

von Menachem Z. Rosensaft  05.09.2025

Meinung

Vuelta-Radrennen: Israelhasser ohne Sportsgeist

Bei der spanischen Radtour ist der israelische Rennstall Ziel von Störaktionen. Nun forderte der Rennleiter das Team auf, nicht mehr anzutreten. Wenigen Fanatiker gelingt es, Israel vom Sport auszuschließen - wie so oft in der Geschichte

von Martin Krauss  04.09.2025

Kommentar

Gaza: Das falsche Spiel der Vereinten Nationen

Die UN ist kein neutraler Akteur im Gazakrieg. Ihre Vertreter scheuen sich nicht, irreführende Zahlen in Umlauf zu bringen und die Hamas als legitime politische Kraft zu präsentieren

von Jacques Abramowicz  03.09.2025

Meinung

Marlene Engelhorn, die Gaza-Flottille und deutsche Schuldabwehr

Die Familie der BASF-Erbin hat an der Ermordung von Juden mitverdient. Nun diffamiert sie den jüdischen Staat, um sich selbst im Gespräch zu halten

von Antonia Sternberger  03.09.2025

Meinung

Schlechte Zeiten für Frankfurts Juden

Durch die Radikalisierung der israelfeindlichen Szene ist die jüdische Gemeinschaft der Mainmetropole zunehmend verunsichert. In der Stadtgesellschaft interessiert das jedoch nur wenige

von Eugen El  01.09.2025