Meinung

Moralische Bankrott-Erklärung beim »Spiegel«

Spiegel-Redakteurin Julia Amalia Heyer wirft in ihrem Artikel Israel einen »Vernichtungsfeldzug« gegen Palästinenser vor Foto: screenshot Spiegel online

Wir halten vieles aus und haben lange stillgehalten. Jetzt ist Schluss! Es ist an der Zeit, laut zu werden, sichtbar zu sein, zu widersprechen und hart zu debattieren. Seit Wochen bin ich damit beschäftigt, Hasspostings auf X zu blockieren und zu melden. Sei’s drum. Hetze generiert nun einmal Klicks und findet Follower.

Die lauten Hassgesänge auf der Straße? Sind Teil der Demonstrationsfreiheit. Die dumpfen Sprechchöre und Vernichtungsaufrufe gegen Israel in der Welt des Geistes und der Kunst? Müssen wir aushalten, gehört zur Freiheit des Wortes und der Meinung, genauso wie die vielen oft von Auslassungen und Hamas-Framing bestimmten journalistischen Beiträge.

Seit Monaten werden die Grenzen des Sagbaren unaufhörlich ausgedehnt und rote Linien folgenlos verschoben. Jetzt durch den »Spiegel«. Unter dem Titel »Verpanzerte Herzen« hat Julia Amalia Heyer eine journalistische, moralische, politische – kurz: eine intellektuelle Bankrotterklärung verfasst, auf die der Blick einzig deshalb lohnt, weil der Text erstens eben nicht in einem marginalen Anzeigenblättchen, sondern als Leitartikel des vermeintlich führenden deutschen Wochenmagazins erschienen ist und weil er zweitens genau deshalb deutlich macht, woran die hiesige, sogenannte Nahost-Debatte krankt.

Antisemitische Stimmungsmache ohne Belege

Aufgehängt an ihrer Empörung über das unbeholfene Statement der Kulturstaatsministerin Claudia Roth, der es im Nachhinein offenbar politisch peinlich ist, dass sie sich von der populistischen Anti-Israel-Stimmung im Saal hatte mitreißen lassen, beginnt Heyer ihr fieses Geraune.  »Die deutsche Staatsräson«, schreibt sie, »frisst die Vernunft. Vernebelt den Verstand. Verpanzert das Herz.«  Mehr noch, Claudia Roths Äußerung wirke »getragen von der Angst um die eigene Existenz, um den eigenen Posten«. Wie bitte? Wer bedroht Claudia Roths Posten, gar ihre Existenz? Die Antwort ist klar: die jüdische Lobby, deren Macht bis in die Regierung reicht, die Ministerinnen zu Fall bringen kann und deutsche Politik bestimmt. Belege für diese antisemitische Stimmungsmache nennt die Spiegel-Redakteurin nicht, braucht sie auch nicht. Auch so kann sie sich der Zustimmung einer breiten Leserschaft sicher sein, die sich nach schlichter Weltsicht sehnt.

Aufgabe guten Journalismus ist es, komplexe Zusammenhänge verständlich zu übersetzen. Das aber setzt voraus, sie selbst zu verstehen. »Dass es Menschen schwerfällt, widersprüchliche Dinge zusammenzudenken, ist ja allgemein bekannt«, sagte der israelische Philosoph Yuval Harari gerade im Interview in der »Süddeutschen Zeitung«. »Aber wenn die Leute, die das nicht schaffen, Intellektuelle oder Künstler sind, dann wird es schwierig.« Und im Fall von Journalistinnen und Journalisten sogar gefährlich. Statt »das Komplexe der Realität tiefer zu durchdringen«, wie Harari es fordert, wird das Leid der Israelis zunehmend ignoriert oder gar unausgesprochen hämisch als »selbst schuld« eingestuft.

An dem Vorwurf des »Vernichtungsfeldzugs« ist alles falsch

So sind die Geiseln Amalia Heyer gar keine Erwähnung und der 7. Oktober nur noch einen pflichtschuldigen Halbsatz wert als Anlauf zu ihrer Kernthese: »Aus der legitimen Selbstverteidigung Israels ist ein Vernichtungsfeldzug geworden.«

An diesem Satz ist alles falsch, verlogen und empörend. Direkt nach dem 7. Oktober schien es einen klaren Konsens zu geben, wonach Israel selbstverständlich das Recht auf Selbstverteidigung habe. Ja, was denn sonst? Wieso muss das Selbstverständliche betont werden? Weil eben nichts selbstverständlich ist, wenn es um Israel geht, und weil, wie sich sehr schnell zeigte, das theoretische Recht eben keineswegs das Recht auf Anwendung dieses Rechts einschloss. Dass Israels militärische Erfolge im Krieg gegen die Hamas automatisch politische Niederlagen auf dem Schlachtfeld öffentlicher Meinung bedeuten würden, war klar.

Trotzdem verblüfft die intellektuelle Verweigerung, sich mit dem Dilemma asymmetrischer Kriegsführung auseinanderzusetzen. Wie kann Israel es schaffen, die Hamas zu bekämpfen, ohne auch die zu töten, hinter denen sich die Terroristen verschanzen: Frauen und Kinder? Je mehr tote Zivilisten, umso besser für die Hamas. Die Opferarithmetik setzt Israel automatisch ins Unrecht. Terrortote gegen Kriegstote. Und so geht die Strategie der Hamas, diese Schlacht moralisch und damit politisch zu gewinnen, selbst wenn sie militärisch verliert, beängstigend gut und leicht auf.

Entsetzen im Angesicht der Hamas-Verbrechen? Fehlanzeige

Und damit bin ich wieder bei Amalia Heyer und ihrem journalistischen Geraune vom israelischen »Vernichtungsfeldzug« und ihrer durch nichts begründeten Behauptung, dass »sich Israel ums Völkerrecht nicht sonderlich zu scheren scheint«. Ihr moralisches Entsetzen gilt nicht etwa der menschenverachtenden Kriegsführung, die den Tod der eigenen Bevölkerung als Kriegswaffe einsetzt, auch nicht dem Skandal, dass die Hamas Hilfsgüter stiehlt, auf dem Schwarzmarkt zu Wucherpreisen verhökert und so die Not der hungernden Menschen doppelt nutzt, propagandistisch und finanziell.

Auch die Frage, wie es überhaupt eine freiheitliche friedliche Zukunftsperspektive für die Menschen in Gaza geben könnte (von Israel einmal ganz abgesehen), ohne die Hamas weitestgehend zu entmachten, stünde einer Spiegel-Redakteurin gut an. Oder die nach der Verstrickung der UNRWA und der Hamas. Auch bei der sie angeblich so heftig umtreibenden Frage nach der Kriegsführung der israelischen Armee kommt sie ohne Recherche aus, denn ihre Antwort steht fest.

»Vernichtungsfeldzug« – glaubt Heyer wirklich, dass Israel vorsätzlich versucht, die palästinensische Bevölkerung auszurotten? Wie bewusst weckt sie die Assoziation an die Wehrmacht und die Schoa?

»Vernichtungsfeldzug« ist die Übersetzung von »Free Gaza from German Guilt«

Der eigentliche Skandal ist nicht ein weiterer schlechter Artikel, sondern dass es auch für widerlichste Anschuldigungen gegen Israel keine Beweise braucht, weil niemand befürchten muss, selbst für eklatante Fehler und Verzerrungen haftbar gemacht zu werden, weil jede Verurteilung auf Beifall zählen kann. Für das Vor-Urteil braucht es kein Wissen. Da reicht das Gefühl, das bestärkt wird durch das »Gerücht vom Juden«, wie der große Philosoph Theodor W. Adorno es so treffend beschrieb. Auch Amalia Heyer muss natürlich nicht fürchten, dass dieser Artikel ihrer Karriere beim Spiegel schaden wird, so wenig wie Claudia Roths Beifall bei der Berlinale der ihrigen.

Der zutiefst populistische Popanz der diktierten Rücksichtnahme, der politisch fesselnden »Staatsräson«, zielt auf die Befreiung von deutscher historischer Verantwortung. Es ist die Übersetzung der Parole »Free Gaza from German Guilt« des aktivistischen Nachwuchses für die etablierte Spiegel-Leserschaft. Und weil es eben nicht um die Situation in Gaza oder gar in Israel geht, lässt sich auch so herrlich unbekümmert, dreist und kenntnislos dahinschreiben.

Wer ernsthaft glaubt, dass diejenigen, die Netanjahus Rücktritt fordern, und diejenigen, die »sich zuallererst Sicherheit wünschen und Frieden und deshalb bereit sind, den Dauerkonflikt mit den Palästinensern zu beenden«, verschiedenen politischen Lagern angehören, hat vor allem eines: keine Ahnung von den politischen Verhältnissen vor Ort. Das hilft bei der nassforschen einseitigen Schuldzuweisung, die sich dann auch die lästige Frage erspart, wo denn die palästinensischen Stimmen friedlicher Nachbarschaft mit Israel zu hören sind.

Es gehört schon viel Taubheit oder böser Wille dazu, über die aktuelle Situation zu schreiben und die Stimme der Hamas zu überhören: »Wir werden es immer und immer wieder tun. Bis Israel vernichtet ist. Wir sind Opfer, und alles, was wir tun, ist gerechtfertigt.« Hunderttausende weltweit teilen begeistert und offen diese Aussage Ghazi Hamads, des Sprechers der Hamas, unter ihnen auch eine junge Frau, die mir auf X geschrieben hat. Sie hatte gepostet »Make Israel Palestine again« und auf meine Nachfrage, ob sie für die Wiedereinführung des britischen Mandatsgebietes eintrete oder sich vielleicht doch für eine Zweistaatenlösung in friedlicher Nachbarschaft erwärme, unmissverständlich geantwortet: »Nein. Es muss den Staat Palästina geben. Israelis von EU und Amerika dürfen in ihre Heimatländer zurück oder friedlich unter palästinensischer Regierung leben.«

Auf X reichen maximal 280 Zeichen aus, um Israel unmissverständlich das Existenzrecht zu bestreiten. Im seriösen Journalismus werden wortreiche Nebelkerzen gezündet, aber am Ende ähneln sich die Bilder.

Dieser Krieg, so schrieb David Grossman in der »New York Times«, habe ein beschämendes Phänomen freigelegt. »Israel ist das einzige Land auf der Welt, zu dessen Vernichtung völlig offen aufgerufen wird.« Daraus ergibt sich für Deutschland aus historischer Verantwortung eine aktuelle Verpflichtung, »Staatsräson« genannt. Wer sie abschütteln möchte, hat ein fest verpanzertes Herz.

Die Autorin ist Journalistin und Filmemacherin.

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