Standpunkt

Wortlos und schreiend

Lena Gorelik (41) wurde in Russland geboren. Foto: Christian Rudnik

Standpunkt

Wortlos und schreiend

Eine deutsch-russische Schriftstellerin über ihre Gefühle zum Krieg gegen die Ukraine

von Lena Gorelik  06.03.2022 10:29 Uhr

Lesend, kopfschüttelnd, weinend. Schreibend, verunsichert, als könnten Worte was. Sehend, schlaflos, manchmal atemlos, manchmal zieht sich die Zeit endlos, in der man darauf wartet, dass ein Wahnsinniger auf die Logik von Sanktionen reagieren soll.

Als Mensch lesen, dann wieder kurz als jemand, der in Russland geboren wurde, soll ich schreiben: als Russin, sich schämen. Allen Ukrainerinnen und Ukrainern persönlich sagen wollen, wie leid es mir tut, als Mensch.

GASLIEFERUNGEN Weil ich Bürgerin eines Landes bin, das von den Gaslieferungen aus Russland profitiert und es deshalb jahrzehntelang vorzog, sich auf mahnende Worte zu beschränken und sich manchmal zu Sanktionen bereit zu erklären, über die der Wahnsinnige vermutlich lächelte, von dem man sagt, die Toilettenschüsseln in seinen Häusern seien aus Gold.

Weil wir alle zu viel im Jetzt leben, zu wenig von früher in die Zukunft übersetzen, obwohl wir doch so viel wissen, obwohl uns doch genügend Historiker und Wissenschaftlerinnen auf Zusammenhänge hinweisen; weil wir selten mehr sehen als die direkte Welt um uns herum und weil wir unseren politischen Aktivismus zu häufig auf Statements in sozialen Medien beschränken, der uns als richtige Haltung in Form von Herzchen aus der eigenen Blase bestätigt wird.

Um dann, wie kleine Kinder, die Münder erstaunt aufzureißen und nicht mehr zu zu bekommen: Was, Katastrophen ereilen die Welt?

ZÄHLEN Die Tage des Krieges zählen, an einem der Tage, war es drei, war es vier, das Zimmer streichen. Weil man es bereits freigeräumt hatte, weil die Farbe im Zimmer steht, weil es geplant war, ich vermeide die Worte: weil das Leben weitergeht.

Sich schämen, dieser Worte, der gelben Farbe an der Wand, während andere nicht das Privileg haben, etwas anderes zu tun als die Tage, die Stunden, die Minuten des Krieges zu zählen. Die Nachrichten laufen im Hintergrund, während die gelbe Farbe tropft, während Panzer rollen, während geschossen wird, während Gebäude explodieren, während … Sich die Hände waschen, um aufs Handy schauen zu können: neue Nachrichten zu möglichen Verhandlungen, weiteren Sanktionen, Nachrichten von Bekannten, die sich aus der Ukraine melden, und wenn sie sich nicht melden, die Stunden zählen.

Ein Privileg aussprechen müssen: Unser Leben geht weiter, während es das für andere nicht tut.

Vielleicht dieses Privileg aussprechen müssen, damit es nicht wieder zu einer Selbstverständlichkeit verkommen kann: dass das Leben weitergeht, während es das für andere nicht tut. Sich dessen schmerzhaft gewahr werden, um aktiv werden zu können.

AKTIONISMUS Ach ja, dieser Aktionismus, der versucht, die Hilflosigkeit, das Nicht-Verstehen zu überdecken. Kapiere es doch, Kopf, du siehst doch die Bilder, aber der Kopf verarbeitet die Bilder zu langsam, kommt den rollenden Panzern nicht hinterher, den mit Koffern an der Hand und Kinder hinter sich her ziehenden Menschen.

Geld gespendet, Plakate für die Ukraine-Solidaritäts-Kundgebung gebastelt, allen geschrieben, die der Krieg trifft, auf der Kundgebung gewesen, sich bei Portalen angemeldet, die Hilfe für Flüchtende organisieren, dann ist immer noch so viel Tag, so viel Nacht übrig, in der man tatenlos zusieht. Die Tage des Krieges zählen, tatenlos.

Die Tage des Krieges zählen, bis wohin? Als wäre ein Krieg beendet, wenn ein Friedensvertrag unterschrieben ist, als kehrte man nach einem Krieg zum Ursprungszustand zurück.

Wobei dieses offizielle Kriegsende, ein unterschriebener Vertrag, in diesen Tagen, die wir zählen, schreiend, wortlos, tatenlos, sich jeglicher Vorstellung erwehrt, während Putin mit atomaren Waffen droht, während die Zahlen der getöteten Menschen, der getöteten Kinder steigt und Kinder in der Metro zur Welt gebracht werden, weil diese sicherer als ein Krankenhaus scheint, was soll in diesem Vertrag denn genau stehen?

SCHLAF Bis wohin zählen wir die Tage, wie schnell vergessen wir, die wir dem Krieg nur zusehen, wie schnell werden wir all jene vergessen, die jemanden in diesem Krieg verloren haben, all jene, die ihr Zuhause verloren haben und die Sicherheit des Schlafs, die von nun an für sehr lange Zeit oder für immer mit der Angst vor Sirenen- und Explosions­geräuschen ins Bett sinken werden?

Wie schnell werden wir vergessen haben? So schnell wie die Kriege im ehemaligen Jugoslawien?

Wie schnell werden wir vergessen haben, so schnell, wie wir zum Beispiel die Kriege im ehemaligen Jugoslawien vergessen haben, wenn davon die Rede ist, dass dies der erste Krieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg ist?

ZIEGELSTEINE Wie schnell werden wir vergessen haben, weil diese Region zu weit weg ist (zu weit!), dass ein Land zerstört worden ist, dass ein Land wiederaufgebaut werden muss auf so vielen Ebenen, die über das Aufeinandersetzen von Ziegelsteinen hinausgehen?

Wie schnell werden wir vergessen haben, dass wir Teil einer Welt sind, dass das bedeutet, dass unser Handeln, unsere täglichen, stündlichen Entscheidungen Auswirkungen auf diese Welt haben, dass diese Welt aus Verbindungen besteht?

Die Tage des Krieges zählen, nicht aufhören zu zählen, solange dieser Krieg anhält, damit kein Tag vergessen wird, damit ein Krieg niemals zu einer Nebensächlichkeit aus den Nachrichten wird.

Die Autorin ist Schriftstellerin. Sie lebt in München.

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