Polemik

Wir Schwarzseher

In der jüdischen Geschichte lagen bisher die Pessimisten meist richtig. Foto: (M) Frank Albinus

Natürlich wieder die Juden. Während alle Welt die Rebellion in Ägypten bejubelt und einen arabischen Frühling aufziehen sieht, melden sich aus Jerusalem die Spaßverderber zu Wort. Der Aufstand vom Tahrir-Platz, so israelische Politiker und Medien, könnte, statt Freiheit und Demokratie zu bringen, das Vorspiel sein für die Errichtung einer islamistischen Diktatur à la Iran, mit der verglichen die Despotie Mubaraks gemütlich aussehen würde.

alarmistisch? Viel Zustimmung finden diese Warnungen nicht. Für Antisemiten aller Couleur sind sie nur ein erneuter Beweis der finsteren Machenschaften des Zionismus. Aber auch viele Freunde des jüdischen Staats schütteln verständnislos den Kopf. Im besten Fall versucht man psychologische Erklärungen: Angesichts ihrer Verfolgungsgeschichte neigten Juden dazu, in ihrem Misstrauen gegen die Umwelt gelegentlich den Bogen zu überspannen. Muss man verstehen, aber nicht ernst nehmen. Die Rede ist dann gern von »jüdischer Paranoia«.

Ein Paranoiker »glaubt oft, dass andere beabsichtigen, ihn zu schädigen, zu betrügen oder auch zu töten. Oft kann er dafür auch ›Beweise‹ präsentieren, die für ihn völlig überzeugend scheinen, für Außenstehende dagegen überhaupt nichts besagen«, liest man bei Wikipedia. »Der Patient ist durch nichts von ihnen abzubringen, rationale Argumente und Überzeugungsversuche von Außenstehenden haben keinen Erfolg und sind vielmehr kontraproduktiv, da sie das Misstrauen der paranoiden Person nur noch verstärken.«

recht behalten Wer erkennt in dieser Symptomatik nicht scheinbar jüdische Züge? Sei es die iranische Atomrüstung, die Hamas in Gaza, Antisemitismus in Westeuropa: Stets klingen die jüdischen Stimmen – nicht nur aus Israel – besonders schrill, warnen vor vermeintlichen Gefahren, die die meisten anderen Menschen überhaupt nicht sehen. Kein Wunder, wenn Israel und die Juden in der aufgeklärt-liberalen Weltöffentlichkeit so isoliert dastehen. Die attestiert ihnen nicht nur Verfolgungswahn. Man spricht auch oft von einer Politik der »self-fulfilling prophecy«, will heißen, der permanente Alarmismus Israels schaffe überhaupt erst die Gefahren, vor denen gewarnt wird.

Die Schwarzmaler können dagegen nur ein bescheidenes Argument ins Feld führen: In der jüdischen Geschichte lagen sie bisher – leider – meist richtig. Zeev Jabotinsky etwa, der 1938 beschwörend vor der kommenden Katastrophe warnte: »Mein Herz blutet, weil ihr nicht den Vulkan sehen wollt, der bald beginnen wird, seine alles verzehrende Lava auszustoßen«, appellierte der Führer der nationalkonservativen Zionisten-Revisionisten damals an die Juden Polens: »Hört auf mich in dieser elften Stunde. Rettet Euch, solange noch Zeit ist.

Und Zeit bleibt nur noch wenig.« Vom entgegengesetzten politischen Spektrum kam fast zeitgleich dieselbe düstere Prophezeiung: »Man kann sich ohne Weiteres ausmalen, was die Juden erwartet, wenn der nächste Krieg ausbricht: die physische Ausrottung«, schrieb Leo Trotzki. Weder auf den einen noch den anderen hörte man. So schlimm werde es nicht kommen, war auch die Masse der Juden überzeugt.

blinder optimismus Es kam bekanntlich so schlimm. Die vermeintlichen Paranoiker hatten richtig gelegen. Oder wie ein makabrer Witz circa 1943 es ausdrückte: »Was ist der Unterschied zwischen einem Pessimisten und einem Optimisten? Der Pessimist sitzt in Tel Aviv, der Optimist in Auschwitz.«

Dass das sprichwörtliche Glas nicht bloß halb leer ist, sondern das Wasser darin auch vergiftet sein könnte, ist keine Wahnvorstellung, sondern kollektive jüdische Lebenserfahrung. Was Kritiker »jüdische Paranoia« schimpfen, ist tatsächlich gesunder Realitätssinn. Wahrnehmungsgestört sind vielleicht eher diejenigen, die aller Historie und Empirie zum Trotz an den unvermeidlich guten Ausgang der Ereignisse glauben. Der österreichisch-amerikanische Psychoanalytiker Otto Kernberg hat »blinden Optimismus« als ein Symptom der narzisstischen Persönlichkeitsstörung definiert.

Diejenigen, die davon befallen sind, »weigern sich zu glauben, dass es Fragen gibt, die unbeantwortbar, Krankheiten, die unheilbar und Desaster, die umvermeidbar sind«, schreibt der israelische Autor Sam Vaknin über diese Art Neurotiker. »Sie werden hinters Licht geführt durch ihr eigenes dringendes Bedürfnis, daran zu glauben, dass letztendlich das Gute über das Böse siegt, Gesundheit über Krankheit und Ordnung über Chaos. Das Leben schiene ihnen sonst sinnlos, ungerecht und willkürlich.« Selten sind Friedensbewegte so akkurat beschrieben worden.
Dann doch lieber paranoid. Das schädigt zwar den guten Ruf, rettet aber möglicherweise die physische Existenz. Oder wie der Intel-Gründer und Schoa-Überlebende Andrew S. Grove sein Buch betitelte: »Only the Paranoid Survive«.

Andrea Kiewel

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