Fotografie

Wer sind wir?

Frédéric Brenner, nicht zu verwechseln mit dem »Beste Schokolade Israels«-Max Brenner, war 19 Jahre alt, als er Ende der 70er-Jahre das erste Mal nach Israel kam. Während seine Freunde das Land durchstreiften, blieb er allein zurück in Jerusalem. Er konnte sich nicht sattsehen am Alltag der Ultraorthodoxen in Mea Shearim.

Glaubte der säkular erzogene Franzose doch, das authentische Judentum gefunden zu haben – das Schtetl, das nirgendwo sonst auf der Welt mehr existierte.

Schließlich griff er zum Fotoapparat, um diese Erkenntnis festzuhalten. Es war der Auftakt zu einer Lebensreise quer durch die Welt, auf der Brenner in den kommenden 25 Jahren Juden in der Diaspora fotografierte – in 40 Ländern auf fünf Kontinenten. Man könnte fast sagen: Simon Dubnow hat die Geschichte des jüdischen Volkes aufgeschrieben, Brenner hat sie für die Gegenwart bebildert.

Diaspora Er habe damals begriffen, »dass es nicht nur einen Weg gibt, Jude zu sein«, so der heute 60 Jahre alte Fotograf über den schlicht Diaspora betitelten Doppelband. »Was Juden in aller Welt gemeinsam haben, ist ihre Unterschiedlichkeit. Ich bin 25 Jahre lang um die Welt gereist – von Indien nach Sarajevo, von Rom nach New York, von Peking nach Buenos Aires und von Marokko nach Äthiopien, um zu verstehen, was ein Volk ausmacht. Diese Porträts sind für mich ein Puzzle, und jedes seiner Teile ist notwendig und unverzichtbar«, so Brenner in einem Interview, als das Werk 2003 erschien.

Und natürlich steckte dahinter auch die Suche nach der eigenen Identität, dem Teil der eigenen Geschichte, den er bisher ignoriert habe: »Wer sind wir, dieses Volk, das es nach mehr als 5000 Jahren immer noch gibt, das den Nationen noch immer ein Rätsel ist, so wie sich selbst?«

War Diaspora die Dekonstruktion der Idee des typischen Juden und die Erkenntnis, dass sich das jüdische Volk seit Abraham in jede vorstellbare Richtung entwickelt hat, so kommt Brenners aktuelle Ausstellung This Place am Ende von Abrahams gottgegebener Reise an: in Eretz Israel. Brenners ganz persönlicher Kreis hat sich geschlossen.

»Was Juden in aller Welt gemeinsam haben, ist ihre Unterschiedlichkeit.«Frédéric Brenner

Nichts Geringeres als die Frage »Was ist Israel?« versucht er zusammen mit weltbekannten Fotografen zu beantworten, die er für das 2006 ins Leben gerufene Projekt nach Israel geholt hat. Denn: Wie könnte er allein das radikal Andere, das Israel doch in sich vereine, beschreiben?

Einzige Voraussetzung: Seine Kollegen durften weder aus Israel noch aus dem Westjordanland stammen, also mit dem das kollektive Nachrichtenbild beherrschenden Konflikt nichts zu tun haben. Unter anderem Gilles Peress, Thomas Struth, Josef Koudelka und Stephen Shore sind Brenners Ruf gefolgt. Die Wanderausstellung ist nach Stationen in New York, Tel Aviv und Prag derzeit im Jüdischen Museum Berlin zu sehen.

Bedeutung Nun ist es kaum vorstellbar, dass ein in Israel aufgenommenes Bild nicht bis zur Oberkante vollgesogen ist mit Bedeutung – sei es die Landschaft oder der Himmel darüber, die Menschen, die dort leben, oder das, was sie geschaffen haben. Zu unablässig diskutiert wird die Existenz des einzigen jüdischen Staates in der Welt.

Brenners persönliche Antwort heißt: »Eine Archäologie der Angst und Sehnsucht«. Angst vor den Verletzungen, die die Menschen in sich tragen, Sehnsucht nach Zugehörigkeit, nach Identität. Dabei lässt Brenner die Menschen in seinen großformatigen Bildern den mal mehr, mal weniger mit Vorwissen oder auch Vorurteilen beladenen Blick der Betrachter mit starker Vorhand zurückspielen.

Klappstuhl Wenn Familie Aslan Levy gerade mit Klappstuhl und Picknickkorb die Düne zum Strand erklimmt, der möglicherweise nur eine Straße ist; wenn drei Frauen vor Möbeln, die in den 20er-Jahren von Berlin nach Israel gebracht wurden, ein unvergessliches Dreigenerationenbild zeichnen.

Oder wenn die ultraorthodoxe Familie Weinfeld mit ihren neun Kindern an einem Fünf-Meter-Tisch sitzt und die historischen Bilder an den Wänden aufzuführen scheint. Das letzte Bild in Brenners Buch wiederum heißt »Tel Aviv«: Vor dem Hintergrund des Azrieli-Center sind Autos und Menschen am Jom Haschoa zum Stehen gekommen, um der sechs Millionen Toten zu gedenken.

»This Place«, noch bis 5. Januar 2020 im Jüdischen Museum Berlin

Erinnerungskultur

»Algorithmus als Chance«

Susanne Siegert über ihren TikTok-Kanal zur Schoa und den Versuch, Gedenken neu zu denken

von Therese Klein  07.11.2025

Erinnerung

Stimmen, die bleiben

Die Filmemacherin Loretta Walz hat mit Überlebenden des KZ Ravensbrück gesprochen – um ihre Erzählungen für die Zukunft zu bewahren

von Sören Kittel  07.11.2025

New York

Kanye West bittet Rabbi um Vergebung

Der gefallene Rapstar Kanye West hat sich bei einem umstrittenen Rabbiner für seine antisemitischen Ausfälle entschuldigt

 07.11.2025

Rezension

Mischung aus Angst, alptraumhaften Erinnerungen und Langeweile

Das Doku-Drama »Nürnberg 45« fängt die Vielschichtigkeit der Nürnberger Prozesse ein, erzählt weitgehend unbekannte Geschichten und ist unbedingt sehenswert

von Maria Ossowski  07.11.2025

Interview

Schauspieler Jonathan Berlin über seine Rolle als Schoa-Überlebender und Mengele-Straßen

Schauspieler Jonathan Berlin will Straßen, die in seiner Heimat Günzburg nach Verwandten des KZ-Arztes Mengele benannt sind, in »Ernst-Michel-Straße« umbenennen. Er spielt in der ARD die Rolle des Auschwitz-Überlebenden

von Jan Freitag  07.11.2025

Paris

Beethoven, Beifall und Bengalos

Bei einem Konzert des Israel Philharmonic unter Leitung von Lahav Shani kam es in der Pariser Philharmonie zu schweren Zwischenfällen. Doch das Orchester will sich nicht einschüchtern lassen - und bekommt Solidarität von prominenter Seite

von Michael Thaidigsmann  07.11.2025

TV-Tipp

Ein Überlebenskünstler zwischen Hallodri und Held

»Der Passfälscher« ist eine wahre und sehenswerte Geschichte des Juden Cioma Schönhaus, der 1942 noch immer in Berlin lebt

von Michael Ranze  07.11.2025

Provenienzforschung

Alltagsgegenstände aus jüdischem Besitz »noch überall« in Haushalten

Ein Sessel, ein Kaffeeservice, ein Leuchter: Nach Einschätzung einer Expertin sind Alltagsgegenstände aus NS-Enteignungen noch in vielen Haushalten vorhanden. Die Provenienzforscherin mahnt zu einem bewussten Umgang

von Nina Schmedding  07.11.2025

Interview

»Mascha Kaléko hätte für Deutschland eine Brücke sein können«

In seinem neuen Buch widmet sich der Literaturkritiker Volker Weidermann Mascha Kalékos erster Deutschlandreise nach dem Krieg. Ein Gespräch über verlorene Heimat und die blinden Flecken der deutschen Nachkriegsliteratur

von Nicole Dreyfus  07.11.2025