Architektur

Was damals modern war

Die Architektur der Zwischenkriegszeit macht Kaunas bis heute interessant. Denn als Litauens zweitgrößte Metropole 1919 Hauptstadt des Landes wurde, war sie nur russische Provinzstadt und wurde über Nacht zur europäischen Kapitale. Diese Verwandlung erfolgte mithilfe moderner Architektur.

Bauherren und Architekten entstammten meist der örtlichen jüdischen Gemeinde. Öffentliche und private Gebäude wie das Parlament, Botschaften, die Nationalbank, Geschäftshäuser, Schulen und Hunderte von elegant-modernen Wohnhäusern wurden errichtet. Etwa die Hälfte dieses Gebäudebestandes, der es qualitativ mit Tel Aviv aufnehmen kann, steht noch heute.

Der Zeitraum von 1919 bis 1939 war die Blütezeit von Kaunas, das »goldene Zeitalter«. Da viele litauische Architekten im Ausland studiert hatten, lassen sich auch italienische, lettische und belgische Einflüsse nachweisen, die mit einheimischen und »nationalen« Mustern wie »Baltischer Folklore« und der lokalen Version des Neo-Barock wie im Staatstheater von 1930 vermischt wurden. Der Antrag auf Eintragung in die UNESCO-Weltkulturerbe-Liste wird derzeit immer noch bearbeitet.

Der Begriff »modernistische Architektur« wird verwendet, um den Stil der 30er-Jahre in Kaunas zu beschreiben, aber es gab mehrere Trends gleichzeitig: Funktionalismus, wie vom Bauhaus geprägt, aber auch Art déco und russischer Konstruktivismus. Die modernen Gebäude ersetzten häufig flache Holzgebäude durch gemauerte fünfstöckige Gebäude.

SYNAGOGE Auf dem »Grünen Hügel« oberhalb des Stadtzentrums steht die Auferstehungskirche. Unter Hitlers und Stalins Herrschaft über Litauen wurde sie beschlagnahmt und als Papierlager und Radiofabrik genutzt. Erst 1990 wurde das Gebäude der Kirche zurückgegeben. Der dreischiffige Gemeindesaal bietet bis zu 5000 Betern Raum. Die 1871/72 nach Plänen des Architekten Lewin Baruch Minkowski im neobarocken Stil erbaute Choral-Synagoge (der Name bezieht sich darauf, dass früher ein Knabenchor den Gottesdienst begleitete) hat deutlich weniger Plätze.

Obwohl die Moderne ein wichtiger Teil der Identität und des Erbes der Stadt ist, sind einige der Gebäude verlassen oder in einem schlechten Zustand. Das gilt zum Glück nicht für das von Edward Max Chase geförderte Jüdische Gymnasium in Kaunas. Das Gebäude wurde von Baruch Kling entworfen und enthielt einen Buchladen, eine Arztpraxis, einen Kindergarten und hatte eine modern-asketische Ästhetik. Heute wird es als Musikschule genutzt. Die jüdische Gemeinde von Kaunas schrumpft weiter, und der Bedarf an einer jüdischen Schule ist gering.

Auch von dem Haus, das Vytautas Landsbergis 1930 für Mose Chaimson, den Leiter des Textillagers von Kaunas, entwarf, blättert der Putz ab. Dennoch beeindruckt sein geradliniger Stil bis heute. Der weite Erker mit gebogenen Glasecken, die Symmetrie und die Tatsache, dass das Wohnhaus über einen Aufzug verfügte, machten es zu Kaunas’ modernstem Wohngebäude, als es 1930 errichtet wurde.

Das ehemalige Jüdische Gymnasium, entworfen von Baruch Kling, ist heute eine Musikschule.

Die meisten modernen Gebäude befinden sich entlang der V.-Putvinskio-Straße (Botschaftsstraße) und am zentralen Laisves aleja (Boulevard der Freiheit), der wichtigsten Ost-West-Straße von Kaunas. Der Hauptsitz des Milchunternehmens »Pieno Centras« zum Beispiel wurde 1932 von Vytautas Landsbergis entworfen und nimmt eine Ecke der zentralen Kreuzung der Stadt ein.

Die runde Ecke des Gebäudes wird durch horizontale Linien akzentuiert und lädt Passanten ein, in die großen Schaufenster im ersten Stock zu blicken, die von poliertem schwarzen Stein gerahmt sind. Ein Glasdach führte die Kunden ins Innere, wo sich eine legendäre Milchbar befand. Oben, in einer der Wohnungen, wohnten der Außenminister und seine Frau.

ZEITUNGEN Gleich nebenan befindet sich die ehemalige Parteizentrale der »Litauischen Nationalisten Union«. Das Gebäude wurde 1934 von Feliksas Vizbaras an der Stelle eines alten Steinhauses entworfen und diente dem Pažanga-Verlag, der Bücher und Zeitungen wie »Die Junge Generation« und »Litauen Echo« herausgab. Der Besprechungsraum hatte Oberlichter aus mattem Glas. Der Gitterdekor der Fassade erinnert an traditionelle litauische Holzschnitzereien, und auch die Balkonbrüstungen zeigen im Stil des Art déco interpretierte Motive der Volkskunst.

Während der sowjetischen Besatzung, wie die Litauer es nennen, wurden die Innenräume leider weitgehend zerstört. Aber 1989 restaurierte die Vytautas-Magnus-Universität das Gebäude.

Das ehemalige Hauptpostamt von 1932 auf der anderen Straßenseite gilt als bedeutendster Bau der Zwischenkriegszeit. Als die Post aus ihrem Prachtbau auszog, befürchtete die Stadt, dass sie eine zu große Lücke in der Fußgängerzone hinterlassen würde, und nutzt das Gebäude nun als Ausstellungszentrum. Mit dem Bau wurde 1930 begonnen, dem Jahr des 500. Todestages von Vytautas dem Großen. In jenem Jahr begann eine Reihe neuer Bauprojekte. Feliksas Vizbaras, einer der meistbeschäftigten Architekten der Zwischenkriegszeit in Kaunas, dekorierte die Innenräume mit geometrischen Formen, die von volkstümlichen Webmustern stammen.

Der Funktionalismus diverser Gebäude war vom Bauhaus geprägt.

Ein weiteres stilvolles Interieur kann in der ehemaligen Residenz von Pranas Gudavicius in der K.-Donelaicio-Straße besichtigt werden. Es verfügt über farbenfrohe Glasdekore mit achteckigen Formen und eine graue Putzfassade mit ausdrucksstarken diagonalen Mustern. Edmundas Frykas hat es in einem dezidiert großstädtischen Art-déco-Stil entworfen. Der junge Internet­unternehmer Karolis Banys hat eine Wohnung darin gekauft und sie sorgfältig im Stil der 30er-Jahre restauriert. Der Bauherr war Leiter des litauischen Ärzteverbandes und hatte seine Praxis und seine Wohnung im Erdgeschoss.

Aber oben, in dem charmanten Wohnungs-Museum, wird der Glanz der besten Jahre von Kaunas wie an keinem anderen Ort in Litauens zweitgrößter Stadt lebendig – einer Stadt, in der laut Schätzungen fast 80 Prozent der Häuser im Zentrum von Juden gebaut wurden. Vor der Schoa lebten rund 40.000 Juden in Kaunas – fast ein Drittel der damaligen Bevölkerung. Heute hat die jüdische Gemeinde in der Stadt nur noch mehrere Hundert Mitglieder.

TV-Tipp

Sie ging über Leichen: Doku »Riefenstahl« zeigt eine überzeugte Nationalsozialistin

Das Erste zeigt Andres Veiels vielschichtigen Dokumentarfilm über Leben und Wirken von Hitlers Lieblingsregisseurin Leni Riefenstahl. Der Film geht auch der Frage nach, wie ihre Filme bis in die Gegenwart ausstrahlen

von Jens Hinrichsen  14.11.2025

Kunst

Illustrationen und Israel-Hass

Wie sich Rama Duwaji, die zukünftige »First Lady von New York«, auf Social Media positioniert

von Jana Talke  13.11.2025

Kino

Zwischen »Oceans Eleven« und Houdini-Inszenierung

»Die Unfassbaren 3« von Ruben Fleischer ist eine rasante wie präzise choreografierte filmische Zaubershow

von Chris Schinke  13.11.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

 13.11.2025

Film

Dekadenz, Krieg und Wahnsinn

»Yes« von Nadav Lapid ist provokativ und einseitig, enthält aber auch eine tiefere Wahrheit über Israel nach dem 7. Oktober

von Sascha Westphal  13.11.2025

Kolumne

Hineni!

Unsere Autorin trennt sich von alten Dingen und bereitet sich auf den Winter vor

von Laura Cazés  13.11.2025

Zahl der Woche

-430,5 Meter

Fun Facts und Wissenswertes

 12.11.2025

Programm

Termine und TV-Tipps

Termine und Tipps für den Zeitraum vom 13. November bis zum 20. November

 12.11.2025

Interview

»Niemand hat Jason Stanley von der Bühne gejagt«

Benjamin Graumann, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, weist die Vorwürfe des amerikanischen Philosophen zurück und beschuldigt ihn, Unwahrheiten über den Abend in der Synagoge zu verbreiten

von Michael Thaidigsmann  12.11.2025