Kino

Mit Kippa und Popcorn

»Fading Gigolo« mit John Turturro und Woody Allen war Auftaktfilm des Jüdischen Filmfestivals Berlin & Brandenburg 2014. Foto: Thinkstock

Gibt es einen jüdischen Film? Die Antwort ist natürlich: Ja. Aber was ist jüdischer Film? War und ist jeder Film mit Natalie Portman oder Gal Gadot ein jüdischer Film? Natürlich nicht. Bei der Frage nach dem Jüdischen im Film zählen der Inhalt, die jüdische Geschichte, die jüdische Atmosphäre, die Aura des Jüdischen um Liebe, Familie, Spannung.

Da reichen nicht Menora und Käppchen als Filmhintergrund. Der jüdische Film lebt von starken Figuren, Welt- und Lebensgeschichten. Und das ist in der deutschen Filmkultur heute weitestgehend eine Leerstelle; denn nicht wenige Filme oder TV-Serien, die sich um ein jüdisches Thema bemühen, treten in den Fettnapf überlieferter Klischees oder peinlichen Jiddelns.

lebenswelten Im Film auf großer Leinwand und kleinem Bildschirm erleben wir hautnah die jüdischen und nichtjüdischen Lebenswelten. Der Film ist eines der wichtigsten kulturellen Felder geworden, auf dem Debatten und Kontroversen ausgetragen werden können, in denen es um aktuelle Fragen gehen kann, um jüdische Identitäten, um Geschlechterbeziehungen, Tradition, Religion, um Beschneidung und Schächten, um Israel und Diaspora sowie ganz aktuell um jüdisch-muslimische Beziehungen.

Filmpioniere wie Luise Fleck in Wien oder Ernst Lubitsch in Berlin haben den deutschsprachigen Film geprägt. Die Mitwirkung jüdischer Künstler und Wissenschaftler am Film vor 1933 ist Legende. Dabei geht es um jüdische Erinnerung, Geschichten aus der Bibel wie Samson und Delila, Mythen aus dem Mittelalter wie Der Golem, Zionismus wie im Herzl-Stummfilm und heute eben auch um Geschichten aus Israel.

Der jüdische Film will unterhalten, in Debatten eingreifen und dem Antisemitismus Paroli bieten. So nimmt der Film Die Stadt ohne Juden von 1924 immens provokativ antisemitische Mentalitäten ins Visier. Der Berliner Sexualforscher Magnus Hirschfeld wirkte vor 1933 selbst an Filmen mit, die wir heute als LGBTQ-Filme bezeichnen.

antisemitismus Die Filmkunst ist kritisch und jüdische Filmkunst in ihren besten Werken epochenübergreifend, subversiv, tabubrechend. 1930 warnte der Regisseur Richard Oswald mit Dreyfus vor dem demokratiezerstörenden Charakter des Antisemitismus. Aber wo bleiben heute deutsche Spielfilme in dieser Tradition, also der Auseinandersetzung mit der Juden- und Israelfeindschaft in der Mitte unserer Gesellschaft?

Hätte zum Beispiel ein deutscher Regisseur einen Film wie Quentin Tarantinos Inglourious Basterds drehen können? Wohl kaum. Ein jüdischer Film soll brav sein, ein wenig Witz, Normalität ausstrahlen – was immer das sein soll –, möglichst auf Tatort-Niveau spielen und nicht wehtun. Reicht das, um eine filmische Präsenz der jüdischen Erfahrungen in unserer Gesellschaft zur Selbstverständlichkeit werden zu lassen?

Jüdischer Film ist weder Weltkino noch ethnischer Film, weder Filmexotik noch schmerzfreie Schoa-Erinnerung. Bis 1933 war das Jüdische im Film in den Zeitungen einfach Teil einer gemeinsamen Filmkultur. Was galt, war Qualität, gute Unterhaltung, zielbewusste Provokation und nicht anbiedernde Kuschelkultur, in der durch Untertitel oder Synchronisation noch jeder jüdische Biss zahnlos wird. Die Wilders, Siodmaks, Zinnemanns, Premingers, Pressburgers wurden verjagt, die Walburgs und Gerrons ermordet.

verantwortung Doch die Filme ihrer deutschen Schaffensperiode existieren. Sie sollten zu sehen und zu hören sein. Die jüdischen Stimmen und Gesichter gehören aus den Archiven in die Kinosäle und auf die Bildschirme. Es gibt nicht nur eine Schuld der Tätergenerationen, es gibt auch eine Verantwortung der Nachgeborenen in Politik und Gesellschaft.

Doch es gibt auch Möglichkeiten, dem Vergessen der Vertriebenen und Ermordeten mit einer Geste zuwiderzuhandeln, sie der Verdrängung in unserem Jahrhundert zu entreißen. Es wäre großartig, wenn die Filme der Vertriebenen und ihrer Kinder im Zentrum der deutschen Filmkultur einen Platz bekämen. Wäre es nicht denk- und machbar, eine Stiftung des Bundes und der Länder ins Leben zu rufen, die sich intensiv bemüht, die vertriebene Filmkunst in die heutige Filmkultur zurückzuholen?

Zweitens gehört dazu eine umfassende und vor allem langfristig zugesicherte staatliche Förderung jüdischer Filmfestivals, jüdischer Filmclubs und von Retrospektiven des jüdischen Films – sei es der Exilierten, sei es der zweiten und dritten Generation; denn viele Kinder und Enkelkinder der Verjagten sind wieder beim Film, beim jüdischen Film in Europa, in Amerika und Israel.

preis Ein jährlich international ausgeschriebener Preis für das beste Drehbuch zu einem deutsch-jüdischen Thema würde der deutschen Filmwirtschaft gut anstehen und Berlin für jüdische Filmschaffende wieder attraktiv machen.

Film kann die Wirklichkeit nicht verändern, aber der jüdische Film kann auf das Denken und Fühlen, auf die Haltungen gegenüber der jüdischen Bevölkerung in Deutschland und gegenüber Israel einwirken. Film ist der Spiegel, in dem wir uns und die Welt erkennen können, und zwar nicht nur, wie sie ist, sondern auch, wie sie sein sollte.

Der Autor ist Filmwissenschaftler und Direktor des Jüdischen Filmclubs Wien.

»Jay Kelly«

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