Bildungsabteilung

Mit der Kamera die Realität zeigen

Im Gespräch: Doron Kiesel, Wissenschaftlicher Direktor der Bildungsabteilung (l.), und der Psychoanalytiker Kurt Grünberg

»Wenn heute ein israelisches oder amerikanisches Filmteam nach Deutschland käme, um einen Film über jüdisches Leben zu machen», sagt Doron Kiesel, «dann wäre das Bild eine blühende Landschaft mit unendlich vielen Synagogen, Gemeindezentren, Wohlfahrtsorganisationen. Man bekäme den Eindruck: Der Text ist stimmig.» Aber, so der Wissenschaftliche Direktor der Bildungsabteilung im Zentralrat der Juden weiter: «Darunter gibt es aber noch einen Subtext, und zwischen Text und Subtext gibt es eine Spannung.»

Doron Kiesel sprach auf dem Seminar «Ambivalenzen. Jüdische Filmschaffende und ihr Verhältnis zu Deutschland. Eine filmische und biografische Spurensuche» in der vergangenen Woche in Wiesbaden. Auf dieser jüngsten Tagung der Bildungsabteilung sollte der Frage nachgegangen werden, was es für Juden bedeutet, nach 1945 in Deutschland zu leben, und mit welchen Mitteln jüdische Filmemacher diesem Leben in Deutschland künstlerischen Ausdruck verliehen haben – von Rückkehrern aus dem Exil wie Fritz Kortner, Georg Stefan Troller oder Max Nosseck bis hin zu jungen israelischen Regisseuren wie Yael Reuveny oder Ester Amrami, die Filme mit Deutschlandbezug drehen und oft in Berlin hängen bleiben. «Dieses Spannungsverhältnis zwischen dem Erkennbaren und der psychischen Realität lässt sich am besten filmisch wiedergeben», so Kiesel.

KORTNER Schon im ältesten auf der Tagung gezeigten Film zeigt sich diese Spannung: Der Ruf von 1949 nach einem Drehbuch von Fritz Kortner. Kortner, der selbst als Remigrant in die Bundesrepublik zurückkehrte, spielt darin den jüdischen Professor Mauthner, den seine frühere Universität aus dem amerikanischen Exil zurückruft. «In Der Ruf scheint alles stimmig», erläuterte Kiesel. «Die Fakultät gibt ihm die Chance, hier wieder zu lehren, die Studenten warten auf ihn, die Sekretärin freut sich, dass er wieder da ist. Gleichzeitig gibt es aber noch eine andere Realität.» Die sieht so aus, dass Mauthner sich mit Ressentiments, Schikanen und im NS-Denken verhafteten Kollegen konfrontiert sieht. Das ist der Subtext unter- halb der Oberfläche, an der scheinbar alles mit rechten Dingen zugeht. Für die Filmwissenschaftlerin Lea Wohl von Haselberg spiegelt dieser Film recht genau die Realität wider – auch durch das gezeigte Wunschbild, den Rückruf auf die alte Wirkungsstätte, hindurch: «Deutschland hat die geflohenen jüdischen Regisseure in der Regel nicht aktiv zurückgeholt.»

Was bedeutete es für Juden, nach 1945 in Deutschland zu leben?

Aber hat sich denn seit 1949 wirklich nichts geändert? Diese Frage mag mancher nach dem Anschlag in Halle für sich selbst anders beantworten als vorher. Jedenfalls wurde darüber auch im Publikum heftig diskutiert. Ein Anlass zur Debatte war etwa der Dokumentarfilm Im Land meiner Eltern (nach Ansicht zahlreicher Teilnehmer der filmische Höhepunkt der Tagung) der in Argentinien geborenen Regisseurin Jeanine Meerapfel, einer Angehörigen der Zweiten Generation: Meerapfel führt darin im Jahr 1981 Gespräche mit deutschen, nach Deutschland zurückgekehrten oder zugezogenen Juden und fragt sie nach ihrem Verhältnis zu Deutschland und den Deutschen. Während die meisten gern in Deutschland leben und es als ihr Land betrachten, berichten sie doch auch alle von teils erschreckend heftigen antisemitischen Anfeindungen. Das sei heute noch genauso, eher noch schlimmer, meinte anschließend eine Zuschauerin. Dies sei übertrieben, heute sei es längst nicht mehr so extrem, eine andere.

An einer Stelle des Films spricht Meerapfel im Off-Kommentar den Satz: «Es gibt heute Schlimmeres, als Jude in Deutschland zu sein», und spielt damit auf die Anfang der 80er-Jahre wachsende Türkenfeindlichkeit an. Gefragt, ob sie das heute auch noch so formulieren würde, antwortete die bei der Vorführung anwesende Regisseurin: «Nein, so vereinfacht würde ich das heute nicht mehr sagen. Heute haben wir eine andere und komplexere Situation.» Und komplexer bedeutet in diesem Kontext wohl: für Juden schwieriger.

«Der Ruf» erzählt eindrucksvoll von einem jüdischen Remigranten.

Schwierigkeiten ganz anderer Art sehen sich Angehörige der Dritten Generation in Israel gegenüber, die in Nordafrika, in der Sowjetunion, in Polen – und eben auch in Deutschland – auf Spurensuche nach ihrer Familiengeschichte gehen. Das relativ junge Genre des autobiografischen Dokumentarfilms legt davon Zeugnis ab. Der Judaist und Medienwissenschaftler Eik Dödtmann stellte in seinem Vortrag vier neuere solcher Filme vor: The Art of Living (2003) von Amir Har-Gil, The Flat (2011) von Arnon Goldfinger, Schnee von gestern (2014) von Yael Reuveny und Back to the Fatherland (2017) von Kat Rohrer und Gil Levanon. Für Dödtmann zeigt sich in diesen Werken die Auseinandersetzung junger Leute mit den Erlebnissen ihrer direkt von der Schoa betroffenen Großeltern – nachdem die Zweite Generation eher das Verschweigen und das Nach-vorne-Sehen wählte.

TRAUMA Nach «Ambivalenz» und «Migration» war damit schon der nächste große Themenkomplex angesprochen: «Trauma». Der Psychoanalytiker Kurt Grünberg, Mitgründer eines Treffpunkts für Überlebende der Schoa in Frankfurt am Main, erläuterte anhand des Dokumentarfilms Pizza in Auschwitz (2008) die Frage, wie Traumata von Generation zu Generation weitergegeben werden. Die traditionelle Auffassung, dass das Schweigen der Überlebenden zur Traumatisierung der Jüngeren führe, das Reden über das Erlittene hingegen zur Befreiung vom Trauma, sei falsch, so Grünberg. Zum einen sei das vermeintliche Schweigen überhaupt keines: «Nonverbales spielt bei der Trauma-Tradierung eine wesentliche Rolle.» Überlebende stellten in ihrem Alltagsverhalten «Szenen» her, in denen sie etwas über ihr Trauma mitteilen; und in diesen Szenen spielen auch die Angehörigen ihre Rollen. Zum anderen, so Grünberg weiter, könnten die Nachkommen auch gerade durch das Reden über das in der Schoa Erlittene traumatisiert werden.

Der Dokumentarfilm eignet sich gut, um das Ausagieren von Traumata darzustellen.

In Pizza in Auschwitz nimmt der Child Survivor Danny Chanoch seine beiden erwachsenen Kinder mit auf eine Reise in das frühere Vernichtungslager. Hier wird sehr deutlich, dass sein ständiges Reden über seine Kindheitserlebnisse eine erhebliche Belastung für seine Tochter Miri und seinen Sohn Sagi darstellt. Zugleich erweist sich der Dokumentarfilm als das ideale Medium, das von Grünberg beschriebene szenische Ausagieren traumatischer Erinnerungen einem Publikum darzustellen. Überwunden ist am Ende von Pizza in Auschwitz gar nichts; aber die Familienmitglieder sind sich dennoch ihrer gegenseitigen Zuneigung gewiss. Überhaupt, so Grünberg, müsse man sich von der Vorstellung lösen, man könne sich von der Erfahrung der Schoa irgendwie befreien. «Ein extremes Trauma lässt sich gar nicht ins Seelenleben integrieren. Es kann aber gelingen, trotzdem Ja zum Leben zu sagen.»

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