Todestag

Meister des himmlischen Blaus

Der Maler Marc Chagall in seinem Atelier in St. Paul De Venice,19. November 1969. (AP Photo) Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS

Unzählige Blautöne tauchen die spätgotische Hallenkirche in ein mystisches Licht. Eingebettet in die blauen Fenstergläser sind Figuren in leuchtendem Gelb, Rot und Grün: Adam und Eva im Paradies, Noah und der Regenbogen, König David mit der Leier... Es sind die Fenster von Marc Chagall, die jedes Jahr rund 200.000 Besucherinnen und Besucher nach St. Stephan in Mainz locken.

Sie waren das letzte große Werk des russisch-französischen Malers: Vor 40 Jahren, am 28. März 1985, ist Chagall im Alter von 97 Jahren gestorben.

»Das Blau als Farbe des Himmels strahlt Ruhe aus und vermittelt eine Ahnung von dem unergründlichen Gott«, so beschrieb der frühere katholische Pfarrer von St. Stephan, Klaus Mayer (1923-2022), die Wirkung der Fenster. Chagall habe seine Kunst »supranatural« genannt, sie lasse »im Sichtbaren Unsichtbares erleben, im Zeitlichen Ewiges«.

Zeichen des Friedens und jüdisch-christlicher Verbundenheit

Mayer, der als Sohn eines jüdischen Kaufmanns die Nazizeit versteckt von Katholiken überlebte, hatte den jüdischen Künstler im hohen Alter für das Werk gewonnen. Chagalls Fenster für die im Zweiten Weltkrieg zerstörte und danach wiederaufgebaute Kirche sind nach den Worten Mayers ein Zeichen des Friedens und der jüdisch-christlichen Verbundenheit.

Die Beliebtheit der Motive Chagalls auf Postkarten und Plakaten hält auch 40 Jahre nach dem Tod des Künstlers unvermindert an: das Liebespaar, Braut und Bräutigam, ein Engel, ein Blumenstrauß oder Tiere. Alles in leuchtenden Farben, figürlich zu erkennen, aber wie in der Schwebe, in eine Traumwelt enthoben.

Chagall selbst lebte in starkem Kontrast zu einer Traumwelt, er durchlitt die Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Auch davon gibt sein Werk Zeugnis. Im jüdischen Schtetl der heute belarussischen Stadt Witebsk 1887 als Moische Schagal geboren, wächst er in einer gläubigen Familie mit acht Geschwistern in bescheidenen Verhältnissen auf.

Aus dem jüdischen Schtetl über St. Petersburg nach Paris

Schon als Jugendlicher nimmt Chagall Malunterricht und studiert Kunst in der damaligen russischen Hauptstadt St. Petersburg. Während eines Paris-Aufenthalts 1911 bis 1914 saugt er die künstlerischen Aufbrüche der französischen Avantgarde auf. Doch von einem Heimatbesuch kann er nicht wieder nach Paris zurückkehren: Der Erste Weltkrieg ist ausgebrochen. Das Glück erlebt Chagall im Privaten, 1915 heiratet er seine große Liebe Bella Rosenfeld (1895-1944). Nach der Oktoberrevolution wird er Kommissar der Künste, verlässt aber infolge von Konflikten 1922 das Land und zieht über Berlin mit seiner Familie nach Paris.

Künstlerisch verbindet er in unverwechselbarer Weise Impulse aus der Avantgarde-Kunstströmung Fauvismus zu Beginn des 20. Jahrhundert, die sich durch expressive Farben auszeichnet, und aus der Formensprache des Kubismus mit Motiven seiner Heimat in Witebsk. Nach der Machtübernahme Hitlers 1933 werden Chagalls Werke in Deutschland diffamiert, zerstört oder ins Ausland verkauft. Als die Deutschen in Frankreich einmarschieren, gelingt Marc und Bella Chagall 1941 die Flucht in die USA. Bella stirbt infolge einer Infektion 1944, Marc kehrt 1948 nach Frankreich zurück.

Die Schrecken der Zeit spiegeln sich etwa in Chagalls Werk »Der Engelsturz«, das er in drei Fassungen 1923, 1933 und 1947 schuf: Aus dem schwarzen Nachthimmel stürzt kopfüber ein roter weiblicher Engel, den Mund aufgerissen. Ein Mann schützt eine Thorarolle, eine Kuh blickt angstvoll nach oben, eine Mutter birgt ein Kind in den Armen, fast unscheinbar am Rand steht ein Gekreuzigter. Der jüdische Maler entdeckt in ihm, dem zentralen Gegenstand christlicher Verehrung, das Sinnbild für die verfolgten und ermordeten Juden schlechthin.

Chagall entdeckt in Jesus das Sinnbild für die verfolgten und ermordeten Juden schlechthin

Chagall schuf ab den späten 1930er Jahren zahlreiche Bilder des Gekreuzigten. Es ist dieser Brückenschlag im Leid zwischen den Religionen, der den damaligen Pfarrer von St. Stephan zu Chagall zog, zumal Klaus Mayer diesen Brückenschlag selbst in seiner Biografie verkörperte. Auch im Chor der Mainzer Kirche ist der Gekreuzigte zu sehen, er steht auf einem der Fenster direkt über König David von Israel. Der von dem jüdischen Künstler geschaffene Zusammenhang erinnert an den ersten Vers des christlichen Neuen Testaments, der die »Geschichte Jesu Christi, des Sohnes Davids« ankündigt.

Lesen Sie auch

Glasfenster von Chagall sind in Sakralbauten in mehreren Ländern zu sehen, etwa in der Kathedrale Notre Dame in Reims, im Fraumünster in Zürich oder in der Synagoge des Hadassah-Krankenhauses in Jerusalem. Marc Chagall starb 1985 im südfranzösischen Saint-Paul-de-Vence bei Nizza. In Nizza bewahrt das Nationalmuseum Marc Chagall das Andenken an den Maler, der jüdischen Glauben mit Offenheit und der Kunst der Moderne verband.

Film

Spannend, sinnlich, anspruchsvoll: »Der Medicus 2«

Wieder hat sich Regisseur Philipp Stölzl kräftig vom Bestseller-Autor Noah Gordon anregen lassen

von Peter Claus  19.12.2025

Musik

Louis-Lewandowski-Festival hat begonnen

Der Komponist Louis Lewandowski hat im 19. Jahrhundert die jüdische Synagogenmusik reformiert. Daran erinnert bis Sonntag auch dieses Jahr ein kleines Festival

 18.12.2025

Geheimnisse & Geständnisse

Plotkes

Klatsch und Tratsch aus der jüdischen Welt

von Bettina Piper, Imanuel Marcus  18.12.2025

Ausstellung

Pigmente und Weltbilder

Mit »Schwarze Juden, Weiße Juden« stellt das Jüdische Museum Wien rassistische und antirassistische Stereotype gleichermaßen infrage

von Tobias Kühn  18.12.2025

Kulturkolumne

Vom Nova-Festival zum Bondi Beach

Warum ich keine Gewaltszenen auf Instagram teile, sondern Posts von israelischen Künstlern oder Illustratorinnen

von Laura Cazés  18.12.2025

Neuerscheinung

Mit Emre und Marie Chanukka feiern

Ein Pixi-Buch erzählt von einem jüdischen Jungen, der durch religiöse Feiertage Verständnis und Offenheit lernt

von Nicole Dreyfus  18.12.2025

Zahl der Woche

1437

Funfacts & Wissenswertes

 18.12.2025

Revision

Melanie Müller wehrt sich gegen Urteil zu Hitlergruß

Melanie Müller steht erneut vor Gericht: Die Schlagersängerin wehrt sich gegen das Urteil wegen Zeigens des Hitlergrußes und Drogenbesitzes. Was bisher bekannt ist

 18.12.2025

Gastbeitrag

Liebe Kolleginnen und Kollegen, warum schweigt ihr?

Jan Grabowski fragt die deutschen Historiker, warum sie es unwidersprochen stehen lassen, wenn ein Holocaust-Experte für seine Forschungsarbeit diskreditiert wird

von Jan Grabowski  18.12.2025