Porträt

Mehr als Sex und Lügen

Paartherapeutin und Bestsellerautorin Esther Perel Foto: dpa

Bill Clinton hatte vielleicht die berühmteste. Aber nicht nur Politiker und Prominente haben Affären. »Fast überall, wo Menschen heiraten, ist Monogamie die offizielle Norm und Untreue die heimliche«, schreibt die Psychotherapeutin Esther Perel in ihrem Buch Die Macht der Affäre. Klug arbeitet sie heraus, was Menschen dazu bringt, zu betrügen – und was auf Paare zukommt, wenn eine Affäre ans Licht kommt.

Vor allem aber zeigt sie, wie unrealistisch die Erwartungen an die Ehe sind. Das Buch, das in den USA schon im Herbst 2017 erschien und zum Bestseller wurde, dürfte auch in Deutschland Debatten auslösen. Das Magazin »Stern« hatte das Thema bereits auf dem Titel.

Betrüger haben oft kreative Ausreden, weiß Esther Perel.

ausreden Betrüger haben oft kreative Ausreden, weiß Esther Perel. »Es war kein Sex, denn …«: »… ich kenne noch nicht einmal ihren Namen/wir waren dabei nicht nackt/wir waren dabei nicht ganz nackt.« Wo fängt Betrügen an? Manche fühlen sich schon verraten, wenn der Partner masturbiert, andere finden Sex okay, solange keine Gefühle im Spiel sind. Und was ist mit denen, die nichts miteinander haben, sich aber alles voneinander erzählen? »Liebe ist chaotisch – Untreue erst recht«, schreibt Perel.

»Früher gingen wir fremd, weil Liebe und Leidenschaft in der Ehe gar nicht vorgesehen waren. Nun gehen wir fremd, weil unsere Ehe die Liebe, die Leidenschaft und die ungeteilte Aufmerksamkeit nicht bietet, die wir uns von ihr versprachen«, schreibt sie, und damit ist das zentrale Problem klar: »Wir erwarten von einem einzigen Menschen, dass er uns gibt, wofür ehemals ein ganzes Dorf zuständig war – und wir leben doppelt so lang wie damals. Das ist ein ziemlicher Brocken, wenn man ihn zu zweit stemmen will.«

In vier Kapiteln seziert die Paartherapeutin, die sich auf Untreue spezialisiert hat, welche Voraussetzungen eine Affäre braucht, welche Konsequenzen sie hat, welche Motive hinter ihr stecken und was nach ihr kommen kann. Sie schreibt mit Blick auf Paare, die ihre Ehe retten wollen (oder nicht). Die Rolle der Geliebten oder des Geliebten nimmt ein Unterkapitel ein.

Die Analyse gründet nicht auf Studien, sondern auf den Geschichten, die Perel in ihrer Arbeit rund um die Welt erzählt wurden.

ted-talk Die Analyse gründet nicht auf Studien, sondern auf den Geschichten, die Perel in ihrer Arbeit rund um die Welt erzählt wurden. Die »New York Times« nannte sie einmal »sex and relationship guru«. Ein TED-Talk der 61-Jährigen zum Thema Untreue wurde bis heute auf YouTube sieben Millionen Mal angesehen. Von ihrem Podcast »Where Should We Begin«, bei dem Original-Mitschnitte aus Therapiesitzungen zu hören sind, gibt es bereits eine dritte Staffel.

In ihrem Buch zitiert die belgisch-polnisch-jüdische Psychologin auch die klugen Gedanken anderer – etwa Journalisten, Philosophen – oder aus Filmen. Konkrete Zahlen liefert ihr Buch keine, Befragungen zum Fremdgehen haben laut Perel auch wenig Sinn: »Menschen lügen, wenn es um Sex geht – insbesondere über Sex, den sie eigentlich nicht haben sollten.« Nur das ist klar: Die Zahl der betrügenden Frauen steigt seit 1990, die der fremdgehenden Männer bleibt konstant.

Warum haben Menschen Affären? Ein Fehler, den viele machen: Denken, dass das Interesse an anderen Partnern verschwindet, sobald man »den Richtigen« gefunden hat. »Gefühle und Begehren für andere zu entwickeln, ist natürlich, aber wir haben die Wahl, ob wir ihnen nachgehen oder nicht«, schreibt Perel. Und wenn Menschen es tun, heiße es immer: Entweder es stimmt etwas nicht mit der Beziehung oder dem Menschen.

In jeder Ehe lasse sich ein Problem finden, meint die Paartherapeutin.

ehe Solche Erklärungen griffen zu kurz, meint Perel. In jeder Ehe lasse sich ein Problem finden. Oft gehe es um etwas anderes: »Wir suchen nicht so sehr nach einem anderen Geliebten, sondern nach einer anderen Version von uns selbst.« Untreue sei »häufig die Rache der nicht ergriffenen Gelegenheiten«. Wer sich für jemanden entschieden habe, lasse sich auf eine Geschichte ein. »Aber wir hören nicht auf, uns zu fragen: In welchen anderen Geschichten hätten wir mitspielen können?«

Ein Mann, der drei Jahre eine leidenschaftliche Affäre hatte, sagt über seine Ehe: »Nicht schlecht, aber irgendwie öde.« Eine Mutter fängt an, mit einem Kollegen zu schlafen, der ihr sagte: »Tief in dir ist eine richtige Frau, die nur darauf wartet, rausgelassen zu werden.« Viele solcher Beispiele sind zu lesen. Perel beschreibt, wie zu viel Nähe die Lust ersticken kann. Und wie eine Affäre scheinbar das Dilemma zwischen Sicherheit und Abenteuer löse: »Alles ändert sich, ohne dass sich etwas ändern muss.« Die Macht der Affäre liege in der Unerreichbarkeit: »Dass wir unseren Geliebten nicht haben können, garantiert, dass wir ihn auf jeden Fall weiterhin wollen.«

Warum tut es so weh, betrogen zu werden? Untreue sei ein Angriff auf die Vergangenheit, erklärt Perel.

Und warum tut es so weh, betrogen zu werden? Untreue sei ein Angriff auf die Vergangenheit, erklärt Perel. Für viele sei das Lügen des Partners schlimmer als der Seitensprung, der ohnehin schon viele in tiefe Verzweiflung stürze: »Monogamie ist die Heilige Kuh des romantischen Ideals, denn sie bestätigt uns in unserer Einzigartigkeit. Untreue hingegen sagt: ›So besonders bist du gar nicht.‹«

scheidung Eine Affäre muss nicht das Ende einer Ehe bedeuten, macht Perel klar und zeigt, wie umstritten das ist: »Früher war vor allem die Scheidung eine Schande. Heute ist es die Entscheidung zu bleiben, obwohl man gehen könnte. Siehe Hillary Clinton.« Aber es gibt Paare, denen eine Affäre gar zu neuer Leidenschaft verhilft.

Hat die Monogamie ausgedient? Perel schreibt auch über Polyamorie, offene Beziehungen, Swingerklubs. Letztlich plädiert sie dafür, Treue neu zu definieren, nämlich nicht nur über sexuelle Exklusivität. »Wie wäre es, wenn wir Treue als eine Art der Beständigkeit der Beziehung betrachten würden, die Respekt, Loyalität und emotionale Intimität beinhaltet?«

Externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel anreichert. Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie Inhalte von Sozialen Netzwerken ansehen und mit diesen interagieren können.

Mit dem Betätigen der Schaltfläche erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihnen Inhalte aus Sozialen Netzwerken angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät nötig. Mehr Informationen finden Sie hier.

Meinung

Antisemitische Verschwörungen, Holocaust-Relativierung, Täter-Opfer-Umkehr: Der Fall Samir

Der Schweizer Regisseur möchte öffentlich über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Essay

Was der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« bedeutet

Eine Erklärung von Alfred Bodenheimer

von Alfred Bodenheimer  22.04.2024

Sehen!

Moses als Netflix-Hit

Das »ins­pirierende« Dokudrama ist so übertrieben, dass es unabsichtlich lustig wird

von Sophie Albers Ben Chamo  22.04.2024

Immanuel Kant

Aufklärer mit Ressentiments

Obwohl sein Antisemitismus bekannt war, hat in der jüdischen Religionsphilosophie der Moderne kein Autor mehr Wirkung entfaltet

von Christoph Schulte  21.04.2024

TV

Bärbel Schäfer moderiert neuen »Notruf«

Die Autorin hofft, dass die Sendung auch den »echten Helden ein wenig Respekt« verschaffen kann

von Jonas-Erik Schmidt  21.04.2024

KZ-Gedenkstätten-Besuche

Pflicht oder Freiwilligkeit?

Die Zeitung »Welt« hat gefragt, wie man Jugendliche an die Thematik heranführen sollte

 21.04.2024

Memoir

Überlebenskampf und Neuanfang

Von Berlin über Sibirien, Teheran und Tel Aviv nach England: Der Journalist Daniel Finkelstein erzählt die Geschichte seiner Familie

von Alexander Kluy  21.04.2024

Glosse

Der Rest der Welt

Nur nicht selbst beteiligen oder Tipps für den Mietwagen in Israel

von Ayala Goldmann  20.04.2024

Frankfurt am Main

Bildungsstätte Anne Frank zeigt Chancen und Risiken von KI

Mit einem neuen Sammelband will sich die Institution gegen Diskriminierung im digitalen Raum stellen

von Greta Hüllmann  19.04.2024