Neujahr

Madonna, Metal, West Side Story

Grell, jaulend und durchdringend: Die Klänge des Schofars sind alles andere als ein Ohrenschmaus. Foto: Thinkstock

Nein, ein Ohrenschmaus sind diese Klänge wahrlich nicht. Rau, grell und durchdringend, mal quietschend, mal dumpf, mal jaulend wirken sie, sogar wenn ein einigermaßen geschickter Spieler am Werke ist. Man fühlt sich in eine andere Zeit versetzt, und man beginnt zuweilen, an die magische Kraft dieser archaischen Klänge zu glauben.

Während die christlichen Kirchen ihren Gottesdienst seit dem frühen Mittelalter mithilfe der wohlklingenden Orgel zu verschönern suchten, ist das Schofar im orthodoxen Judentum immer noch das einzige Musikinstrument, das in der Liturgie Verwendung findet. Es ist eines der ältesten heutzutage noch gebräuchlichen Musikinstrumente weltweit und wurde von Juden und anderen orientalischen Völkern bereits vor Jahrtausenden benutzt. Als nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels alle dort gespielten Instrumente aus dem Gottesdienst verbannt waren, wurde das Schofar nicht verboten – sein Klang galt offensichtlich nicht als Musik.

klang Und in der Tat ist das Schofar mit Sicherheit das unmusikalischste Musikinstrument, das man sich vorstellen kann. Bei den europäischen Juden wird das Schofar heutzutage in der Regel nur zweimal im Jahr geblasen: Seine Klänge ertönen mehrmals während Rosch Haschana, und eine einzige Note wird zum Abschluss von Jom Kippur gespielt.

Was viele überraschen mag: Das Schofar wird nicht nur in der Hebräischen Bibel 72-mal (und somit häufiger als jedes andere Musikinstrument) erwähnt, es kommt auch mehrmals im Neuen Testament im Zusammenhang mit messianischen und apokalyptischen Vorstellungen vor – der Schofarklang ist also auch im Christentum ein Ausdruck der unmittelbaren göttlichen Einmischung ins irdische Geschehen.

Allerdings konnte das hebräische Wort Schofar schwer in andere Sprachen übersetzt werden. Ob die griechische »Salpinx« (Trompete) in der Septuaginta oder die lateinische »Tuba« in der Vulgata oder später die deutsche »Posaune« aus der lutherischen Bibel – sie alle haben mit dem Schofar gar nichts zu tun. Weder hätte Gott auf dem Berg Sinai eine Trompete geblasen, noch wären die Stadtmauern von Jericho durch Posaunenklänge eingestürzt – ganz abgesehen davon, dass die Posaune eigentlich erst kurz vor Luthers Zeit erfunden wurde. Ebenso wenig kann man sich Gottes Zorn mit sieben »posaunenden« Engeln aus der Johannes-Offenbarung vorstellen. Auch die Ankunft des Messias wird natürlich nicht von einer »letzten Posaune« (so Paulus) begleitet, sondern von den unheimlichen Schofarklängen.

Solche missverstandenen Spuren der jüdischen Schofartradition finden sich massenhaft in der christlichen Kultur. Der bekannte gregorianische Hymnus aus den frühen Mittelalter »Dies irae«, der lange Zeit Bestandteil der lateinischen Totenmesse war und dessen Text und Melodie in unzähligen Werken klassischer Musik –in der neueren Zeit auch in Filmen und Pop-Songs – zitiert werden, zeichnet ein Bild des Jüngsten Gerichts, bei dem »eine Posaune laut erklingen wird«. Entsprechend ist in Mozarts Requiem an der besagten Stelle »tuba mirum« ein Posaunensolo zu hören.

Mozart Seit dem Erscheinen der lutherischen Bibel wurde die Posaune zum beliebten und geradezu obligatorischen Klangsymbol für einen richtenden Gott. Die Opernszenen etwa, die ein göttliches Urteil zum Inhalt hatten, wurden in der Regel mit drei Posaunen unisono – als musikalischer Ausdruck der christlichen Trinitätvorstellung – begleitet.

Es war sogar unerheblich, ob es sich dabei um einen heidnischen Gott handelte, wie zum Beispiel den griechischen Meeresgott Poseidon in Mozarts Oper Idomeneo. Die Posauneneinsätze kennzeichnen die Schlüsselepisoden von solch spirituell bedeutungsvollen Werken wie Händels Messias, das Finale von Beethovens Neunter Symphonie, die Grande Messe des Morts (Große Totenmesse) von Hector Berlioz oder Paul Hindemiths Oper Mathis der Maler.

Erst im 20. Jahrhundert besannen sich einige Komponisten auf das ursprüngliche jüdische Schofar anstelle der christlichen Posaune. Als Erster setzte es 1903 der Brite Edward Elgar in seinem Oratorium The Apostles ein. Leonard Bernstein, der in mehreren seiner Werke jüdische musikalische Symbole, darunter sogar einen Code für den jüdischen Gottesnamen JHWH, integrierte, benutzte zwar kein authentisches Schofar, dafür aber vielfach Schofarzitate wie etwa in der legendären West Side Story, dem Musical Candide oder dem Concerto for Orchestra (Jubilee Games), das eine ganze Palette von Schofaranklängen einschließt. Dieses Werk, das zum 50-jährigen Jubiläum des Israel Philharmonic Orchestra komponiert wurde, enthält außerdem die kabbalistischen Zahlensymbole 7, 18 und 50 (die biblische Jubiläumszahl).

metal-band Auch in der heutigen Neuen Musik, die ein extrem breites Instrumentarium benutzt, kommen Schofarot immer wieder zum Einsatz, wie zum Beispiel in der Oper Babylon von Jörg Widmann, die im Jahr 2012 am Münchner Nationaltheater inszeniert wurde; ebenfalls in Tekeeyah, einem Konzert für Schofar, Posaune und Orchester der amerikanischen Komponistin Meira Warschauer, oder in Werken junger jüdischer, in Deutschland lebender Komponisten wie Bnaya Halperin-Kaddari, Eres Holz und Sarah Nemtsov.

Mittlerweile findet das Schofar sogar Eingang in die populäre Musikkultur: Es wird in Madonnas Song »Isaac« (veröffentlicht auf ihrem Hitalbum Confessions on a Dance Floor) oder von der israelischen Metal-Band »Salem« geblasen. Vor Kurzem erregte der israelische Breakdancer Asaf Goren Aufsehen, als er zur besten Sendezeit in der beliebten amerikanischen TV-Show So You Think You Can Dance mit Tallit erschien und zu Beginn seines Auftritts imposant Schofar blies.

Wie vielfältig das Schofar benutzt werden kann, beweist nicht zuletzt ein Witz über den Juden Shlomo, der keine Uhr in seinem Haushalt führt. Jedes mal, wenn er nachts aufwacht und wissen will, wie spät es ist, macht er das Fenster auf und bläst das Schofar. Es findet sich dann immer ein verärgerter Nachbar, der ihm zuruft: »Shlomo, bist du verrückt, um drei Uhr nachts Schofar zu blasen?«

Der Autor ist Pianist, Professor für Musikwissenschaft und hat an der Hochschule für Musik Franz Liszt in Weimar den Lehrstuhl für die Geschichte der jüdischen Musik inne.

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